Folge dem Herzen

  31.12.2021 Sport

Kickboxen: 30 Jahre Kickboxing Wohlen – eine Erfolgsgeschichte von Rocco Cipriano

Weltmeister. Vorbild. Verbandssportchef. Rocco Cipriano ist ein Mann, der immer seinem Herzen folgte. Er unterrichtete Sträflinge im Knast, peppt Fussballmannschaften mental auf – und ist immer positiv. Seine Geschichte ist Krimi und Märchen zugleich. Anlässlich des 30-Jahr-Jubiläums von Kickboxing Wohlen erzählen wir diese Story.

Stefan Sprenger

Rocco Cipriano ist ein Mann, der gerne redet. Früher waren nur seine Fäuste schneller als seine Worte. Auffällig: Auch wenn er stundenlang spricht, kommen nie negative Gedanken zum Vorschein. Er ist ein Mensch der Marke «Einzigartig».

Das sieht man nur schon, wenn man seinen (unvollständigen) Palmarès auf listet. Rocco Cipriano war mehrfacher Schweizer Meister im Boxen, Kickboxen, Thaiboxen und Sandaboxen. Dazu mehrfacher Weltcupsieger und Leichtgewicht-Weltmeister im Kickboxen. 2004 wurde er im Kongresshaus Bern zum «Schweizer Kampfsportler des Jahres» gekürt. Drei Mal wurde er «Freiämter Sportler des Jahres». Vom Departement für Bildung, Kultur und Sport vom Kanton Aargau wurde er auch für sein Sozialengagement und die geleistete Jugendarbeit geehrt. Beispielsweise gab er in der Strafanstalt Lenzburg Training für die Insassen. Und mit Kickboxing Wohlen hat er Hunderten, wenn nicht Tausenden von Kindern und Jugendlichen den Sport nähergebracht. Respekt, Demut und Toleranz sind in den Trainings zentrale Werte, die er vermittelt.

Ein Unfall verändert alles

Rückblick: Vor rund 60 Jahren kommen Ciprianos Eltern aus Avellino bei Neapel nach Wohlen. Wie so viele italienische Einwanderer suchen (und finden) sie Arbeit. Ihre Tochter, Gery, bleibt bei den Grosseltern in Neapel. Rocco kommt zwar in Muri zur Welt, verbringt aber die ersten zehn Lebensjahre ebenfalls in Kampanien. Als er wieder nach Wohlen kommt und direkt in der 3. Klasse zur Schule geht, kann er kein Wort Deutsch. Cipriano ist anpassungsfähig und lebt sich schnell ein. Er besuchte die Sekundarschule, machte eine Lehre als Automonteur und die Handelsschule.

In seinem Leben spielt der Sport immer eine grosse Rolle. Er macht Judo und Leichtathletik. Seine grösste Leidenschaft war aber der Fussball. «Ich habe es geliebt. Ich habe jede freie Minute mit Fussballspielen verbracht.» Rocco Cipriano war ein hoch talentierter Juniorenkicker beim FC Wohlen. Doch es gab noch einen, der besser war: Damals spielte Cipriano gemeinsam mit Ciriaco Sforza. Beide sollten später einmal Sportgeschichte schreiben.

1986. Rocco Cipriano ist gerade 18 Jahre alt geworden und hat seinen Führerausweis gemacht. Im Wald zwischen Wohlen und Bremgarten geschieht dann ein folgenschwerer Unfall. Ein Geisterfahrer, ein Frontalaufprall. Er erinnert sich: «Es hat uns extrem verhudelt.» Alle drei Insassen werden verletzt, teilweise schwer. Ciprianos Brustkorb ist demoliert, die Lunge gequetscht – und das Knie zertrümmert. Die Fussballkarriere hinüber. Doch der Fluss namens Cipriano findet immer einen Weg, um weiterzufliessen. Die Lösung: Boxen. «Obenrum ging es nach einigen Monaten wieder», erzählt er. 1988, als 20-Jähriger, beginnt er mit dem Boxtraining bei Luciano Picariello in Mellingen. Trotz starken Schmerzen im Knie. «Der Sporttrieb war grösser als die Schmerzen.» Mit Picariello und Gregi Trovato gründet er 1991 die Kickboxing-Schule in Wohlen. «Ich wollte etwas auf die Beine stellen in meinem Heimatdorf.»

Andy Hug klopfte an

Zu Beginn nimmt er die Kinder aus der Nachbarschaft ins Training mit. 8 Jugendliche, 8 Erwachsene, das waren die Mitglieder in der Anfangszeit. Nach einem Jahr steigen Picariello und Trovato aus Zeitgründen aus. Rocco Cipriano ist jetzt Trainer und alleiniger Chef. Wenig später kommt ein gewisser Andy Hug auf Cipriano zu. «Er suchte eine Trainingsmöglichkeit in Wohlen. Er fragte, ob er morgens um 6 Uhr jeweils meine Trainingsräume benutzen dürfe und auch die Schweizer Nationalmannschaft im Kyokushinkai dort ab und zu trainieren dürfe.» Cipriano sagt zu. Mit einer Bedingung: «Ich wollte mittrainieren.» Andy Hug stimmte zu. «Ich konnte in diesen Trainings unglaublich viel profitieren.» Wieder haben sich zwei gefunden, die später einmal Sportgeschichte schreiben.

Cipriano beginnt mit Wettkämpfen. Und kriegt am Anfang nur aufs Dach. Er trainiert noch härter, übt sich in verschiedenen Kampfsportarten. Gleichzeitig zieht er mit Kickboxing Wohlen mehrmals um. Zudem will er es kommerziell aufziehen. «Ich wollte ein Geschäft daraus machen und davon leben.» Er erweitert sein sportliches Angebot, engagiert beispielsweise Aerobic-Instruktorinnen. Auch seine jetzige Frau Giusi war eine davon. Sie kannten sich schon als Kinder. «Und eigentlich fanden wir uns immer unsympathisch. Ich dachte, sie sei eingebildet», erklärt Cipriano lachend. Doch es funkt im Dojo von Kickboxing Wohlen. 1992 werden sie ein Paar. 2000 heiraten sie. 2002 kommt Sohn Roy auf die Welt. Er ist heute Junioren-Weltmeister im Kickboxen.

Seit über 15 Jahren am selben Ort

Im Dojo arbeitete Rocco Cipriano viel. Sehr viel. Er wollte seinen Traum verwirklichen und eigenständig sein. «Ich bin aber fast kaputtgegangen», sagt er heute. Denn Geld verdienen konnte man mit einer Kickboxing-Schule nicht. Wohl oder übel: Er musste es sein lassen. Er besuchte Weiterbildungen und heute ist er Leiter eines Ressorts bei der Firma Nagra in Wettingen. Derzeit besucht Cipriano auch einen Studiengang im Bereich Psychologie.

Für Kickboxing Wohlen sucht er damals Lösungen – und findet sie. Die Migros-Klubschule übernimmt und stellt ihn als Instruktor an. Die Trainingsmöglichkeiten waren aber in der Klubschule beschränkt. Cipriano wollte wieder etwas Eigenes. Am 17. Januar 2004 wird er Weltmeister des ältesten Verbandes der Welt, der WKA. An diesem Anlass fragt der Moderator das Publikum in der Hofmattenhalle, ob jemand Räumlichkeiten weiss, die sich für Kickboxing Wohlen eignen. Danach meldete sich der Verwalter des Gebäudes an der Zentralstrasse der Gebrüder Dreyfuss AG (ehemals Cellpack). Das Lager der Bernhard Hegi AG wird frei. «Als ich zum ersten Mal da hineingelaufen bin, dachte ich, das ist nichts. Es war dunkel und überall hatte es Regale.» Doch Cipriano ist auch ein Visionär. Er baute um. Seit über 15 Jahren ist dieser Ort das Zuhause von Kickboxing Wohlen.

Viele internationale Erfolge

Es ist ein Klub, der unzählige Schweizer Meister herausbrachte. Es sind so viele Namen, dass man sie an dieser Stelle nicht alle auflisten kann.

Und auch auf internationaler Ebene bringt Kickboxing Wohlen einige Hochkaräter raus, die an Welt- und Europameisterschaften Medaillen holten. Franco Caruso, Hüseyin Dirlik, Alper Aslan, Danylo Mancari, Cheyenne Rast, Stefanie Richner, Christine Felber, Toni Lo Prete, Toni Cerundolo, Sengül Güzel oder sein Sohn Roy.

Menatal die Fussballer auf Vordermann gebracht

Der Verein Kickboxing Wohlen ist heute beim nationalen Verband kaum mehr wegzudenken und hat viel bewegt. So ist beispielsweise der Wohler Andrea Faggiano der Trainer der Nationalmannschaft und Beat Richner, den Cipriano durch seine ganze Sportkarriere begleitete, der Präsident des Verbandes. Und die beiden sind nicht die einzigen Wohler, die im Dienste des Verbandes stehen. «Alles ehrenamtlich. Alles freiwillig. Wir alle wollen dem Sport etwas zurückgeben», sagt Cipriano, der selbst seit 2014 als Sportchef des schweizerischen Kickboxverbandes und als Mentalcoach der Junioren-Nationalmannschaft tätig ist. Apropos Mentalcoach: Rocco Cipriano hilft auch immer wieder Einzelsportlern oder Mannschaften diesbezüglich weiter. Sei es der FC Wohlen, die Profimannschaft des FC Aarau oder der FC Muri, der sich vor einigen Jahren im Abstiegskampf die Dienste von Rocco Cipriano sicherte. Auch die U21-Fussballnati, die Europameister wurde, wurde von Cipriano unterstützt.

Wohin soll Kickboxing Wohlen in Zukunft gehen? Cipriano überlegt: «Ich setze mir keine Ziele. Ich versuche immer mein Bestes zu geben und folge meinem Herzen.» Und das ist im Kampfsport enorm wichtig. Er ergänzt: «Beim Zweikampf muss ich mit dem ganzen Herzen dabei sein, sonst hab ich keine Chance. Körper und Geist müssen eine Einheit bilden.» Und so ist es auch im Leben.

Dass die Sportart Kickboxen im Jahr 2028 aller Voraussicht nach erstmals ein Teil der Olympischen Spiele sein wird und 2023 an den Europaspielen dabei sein wird, öffnet dem Kickboxen viele neue Möglichkeiten. Es ist auch ein kleiner Verdienst von Cipriano. Macht er dort auch nochmals mit? «Als was? Als AHV-Boxer?», lacht der 53-Jährige und beweist damit auch seinen feinen Humor. Cipriano, der die Arbeit mit den Kindern und Jugendlichen am meisten liebt (der Klub besteht zu 95 Prozent aus Nachwuchskämpfern), hat seinen letzten Kampf 2015 an einem internationalen Turnier in der Veteranenklasse in Zürich bestritten. Er hat gewonnen. Und wer weiss, vielleicht holt sein Sohn Roy an den Olympischen Spielen im Jahr 2028 eine Medaille. Es würde zum wundervollen Märchen passen.

Der grösste Erfolg ist besonders

1991 hat Rocco Cipriano Kickboxing Wohlen gegründet. National und international hat er diese Sportart vorangetrieben. Kickboxing Wohlen gilt als Vorzeigeverein. Und wird das auch bleiben. Der grösste Erfolg? Cipriano: «Die Kinder, die damals bei mir im Training waren, bringen heute selbst ihre Kinder zu mir und sagen: ‹Mach mit ihnen, was du mit mir gemacht hast.›»


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