«Betet weiterhin für uns»

  24.09.2021 Bremgarten

Die Ingenbohler Schwestern verlassen Bremgarten nach 132Jahren

Die St. Josef-Stiftung verliert Ende November die letzten Vertreterinnen ihrer Gründungsgemeinschaft. Ein Rückblick auf ein bedeutendes Stück Bremgarter Geschichte.

Thomas Bopp ist sichtlich bewegt. Dem Leiter der St.Josef-Stiftung fällt es schwer zu verkünden, was er hoffte, noch lange nicht tun zu müssen. «Ich mache aus meinem Herzen keine Mördergrube», seufzt er. «Ich bin traurig. Wir verlieren heute auch einen Teil unserer Identität und unserer Seele.»

Zu seiner Seite haben die Schwestern Elia und Reto Platz genommen. Die beiden vertreten die kleine übriggebliebene Gruppe dessen, was vor nunmehr 132 Jahren in einem Akt der Menschlichkeit ein Heim im ehemaligen Kapuzinerkloster von Bremgarten eröffnet hat. Am 10. Dezember 1889 bezogen sechs Kinder, drei Schwestern und eine «weltliche» Lehrerin die ersten Räumlichkeiten in der «Anstalt für schwachsinnige Kinder zu St.Joseph».

Humanitärer Meilenstein

Was heute nach einer grausamen, beleidigenden Bezeichnung für geistig Beeinträchtigte tönt, entsprach lediglich dem damaligen Sprachgebrauch und widerspiegelt ein Stück weit auch die Stellung, die solchen Kindern jahrhundertelang zukam. Sie lebten oft in menschenunwürdigen Verhältnissen und wurden nicht selten versteckt und erniedrigt, weil man sich ihrer schämte. Rund 400 von ihnen gab es damals im Aargau. Dass eine Organisation gegründet wurde, die sich ihrer annahm, sie betreute und sie sogar so gut es ging förderte, war ein humanitärer Meilenstein. Auch wenn die Einrichtungen der Ordensgemeinschaft selbst zeitweise wegen Missbrauchsfällen im vergangenen Jahrhundert negativ in den Schlagzeilen waren, muss man dies immer in Relation zu den Verhältnissen zuvor sehen und den schwierigen Bedingungen, unter denen ihre Mitglieder teilweise arbeiten mussten.

Die Schwestern als Vorreiter

Doch diese Zeiten sind glücklicherweise vorbei. «Da sind wir als Gesellschaft unglaublich viel weiter gekommen», lächelt Ordensschwester Elia. Die langjährige Stiftungsleiterin ist stolz auf das Erreichte. Denn was die Ingenbohler Schwestern heute hinter sich lassen, ist eine Stiftung, die beeinträchtigten Menschen ein erfülltes Leben in Achtung, Würde und Integrität ermöglicht und die voll in die Gesellschaft integriert ist.

Das alles ist hauptsächlich den Ordensschwestern zu verdanken, die einen Grossteil der heutigen Aufgaben der Stiftung einst initiierten und Pionierleistungen auf dem Gebiet der Behindertenbetreuung und -förderung erbrachten. «So waren wir beispielsweise 1972 eine der ersten Einrichtungen, die Psychomotoriktherapie und Logopädie anboten», erzählt Elia. Auch bei Gebieten wie der Physiotherapie, der Weiterentwicklung der Heilpädagogik oder beim Anbieten von Reit- und Hippotherapien nahm die St.Josef-Stiftung unter der Führung der Ingenbohler Schwestern eine Vorreiterrolle ein. «Wir haben immer versucht, mit der Zeit zu gehen», sagt die ehemalige Leiterin. «Und das ist uns ganz gut gelungen.»

Übergabe in weltliche Hände

Zu Höchstzeiten wohnten Mitte des 20. Jahrhunderts 56 Ordensschwestern in Bremgarten. Einschneidend war das Jahr 1987, als die Heimleitung von Ingenbohl an weltliche Hände übergeben wurde. «Da haben sich viele von uns schwergetan damit», sagt Elia. «Wir fragten uns: Was haben wir noch zu sagen?» Doch derlei Bedenken seien vom damals eingesetzten Stiftungsleiter Manfred Breitschmid rasch zerstreut worden. «Er hörte uns zu, liess uns mitreden und führte die Stiftung weiter im Sinn des Klosters», sagt Elia.

Auch Thomas Bopp, der vor sieben Jahren Breitschmids Nachfolge antrat, begriff schnell die Wichtigkeit, die Ingenbohl für die Stiftung nach wie vor besass. Er habe deshalb von Anfang an versucht, die Schwestern so oft wie möglich miteinzubeziehen. «Sie waren so etwas wie unser Gewissen», sagt er. «Immer, wenn wir uns unsicher waren, fragten wir uns zuerst ‹Was würden wohl die Schwestern dazu sagen› – sehr oft hat uns das in der Entscheidungsfindung geholfen.»

Verbindung zu Bremgarten

Obwohl der Einfluss blieb, nahm die Zahl der Ordensschwestern in Bremgarten in den letzten Jahren sukzessive ab. Elia wurde schon vor 15 Jahren wieder nach Ingenbohl zurückberufen und übernahm dort eine neue Aufgabe. Schwester Reto ist eine von noch dreien, die bis heute in Bremgarten verblieben sind. Gemeinsam mit Hildeborg und Patricia bewohnt sie einen Stock im Personalhaus der Stiftung. «Wir haben es da eigentlich ganz komfortabel.» Das sei nicht immer so gewesen. «Wir sind in all den Jahren viele Male umgezogen. Einmal bewohnten wir eine Art Dachstock. Da wurde es schon ziemlich eng», lacht sie. Wenn Reto Bremgarten Ende November definitiv verlässt, wird auch bei ihr viel Schwermut mitschwingen. «Ich fühle mich mit Bremgarten mittlerweile sehr verbunden», sagt sie. «Die Stadt mit ihren tollen Angeboten, ihrer Kultur und den vielen kleinen, schönen Winkeln hat mich geprägt und ist für mich schnell zu einer Heimat geworden.» Und doch hat sie das Gefühl, dass die Zeit jetzt reif ist, zurückzukehren ins Kloster nach Ingenbohl. Ausschlaggebend war einerseits das zunehmende Alter der drei Verbliebenen. Das Kloster sei eine ideale Altersresidenz, wo sie ihre verbleibenden Kräfte weiterhin einsetzen können, meint die 87-Jährige. Andererseits sei mit der Anzahl und der veränderten Aufgabenverteilung natürlich auch der Einfluss der Schwestern mehr und mehr geschwunden. «Wir sind ersetzbar geworden», sagt die Schwester, ohne dies wehmütig zu meinen. «Die Zeit ist nun einfach reif für uns zu gehen.»

Beobachterinnen aus der Ferne

Reto und Elia betonen beide, dass sie sich, auch wenn sie nicht mehr vor Ort sind, auch künftig mit den Vorgängen in der Stadt und insbesondere dem Behindertenwesen hier auseinandersetzen werden. Sie stünden auch weiterhin gerne mit Rat und Tat zur Verfügung. «Ich werde euch auf jeden Fall genau im Auge behalten», sagt Elia mit einem Zwinkern in Richtung Bopp. Und Reto ergänzt: «Ich hoffe insbesondere, dass die christlichen Werte der Stiftung weitergelebt werden und nicht verloren gehen.»

«Darüber braucht ihr euch keine Sorgen zu machen», sagt Bopp. «Solange ich hier bin, werden wir das Andenken der Ingenbohler Schwestern ehren und die Stiftung im Sinne ihrer Gründer weiter betreiben.» Und der Stiftungsleiter formuliert zum Schluss seinerseits eine Bitte: «Ich hoffe sehr, dass ihr weiterhin für uns beten werdet.» --huy


Viel geschehen

Eckpunkte aus 132 Jahren Ingenbohler Schwestern in Bremgarten:
– 1889: Die Generaloberin der Barmherzigen Schwestern von Ingenbohl eröffnet die Anstalt St.Joseph. 6 Kinder, 3 Schwestern und eine Lehrerin ziehen ein.
– 1896: Die Anstalt wächst rasant. Mittlerweile werden 131 Kinder betreut. Der Neubau Marienbau wird bezogen.
– 1914: Während des ersten Weltkriegs wohnen 247 Kinder in der Anstalt. Die Ressourcen sind knapp. Man lebt von Almosen und Spenden.
– 1932: Die Schlaf-Strohsäcke werden durch Stahlfedermatratzen ersetzt.
– 1935: Die erste elektrische Waschmaschine bringt grosse Erleichterung beim Waschen der zahlreichen Windeln.
– 1939: Zusätzlich zu den beeinträchtigten Kindern quartiert das Heim während des Zweiten Weltkrieges Soldaten ein.
– 1948: Der Verein wird in eine Stiftung umgewandelt, der Name von «Anstalt St. Joseph» in «St. Josefsheim» geändert.
– 1953: Mit 400 betreuten Kindern wird in den 50er-Jahren der Höchststand erreicht.
– 1960: Die IV übernimmt Teile der Kosten, was eine grosse Erleichterung bringt. Aufgrund dieser Tatsache eröffnen neue, vergleichbare Heime. Die Anzahl der Kinder in Bremgarten nimmt ab.
– 1975: Der heutige Zentralbau wird eingeweiht.
– 1987: Übergabe der Heimleitung an weltliche Kräfte. Manfred Breitschmid übernimmt die Leitung von den Ingenbohler Schwestern.
– 2021: Die letzten Schwestern verlassen Bremgarten.


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