Amateure, die zu Helden wurden

  13.08.2021 Sport

Sommerserie «Grosse Kisten»: Der Aufstieg des FC Wohlen in die Nationalliga B im Juni 2002

Es war ein «0:0-Sieg» für den FC Wohlen am 8. Juni 2002 im Heimspiel gegen den FC Schaffhausen. 2300 Zuschauer wurden auf der Paul-Walser-Stiftung Zeuge davon, wie die Freiämter den grössten Erfolg in der damals 98-jährigen Vereinsgeschichte feiern. Der Club wird Meister in der 1. Liga und steigt in die Nationalliga B auf.

Josip Lasic

Am 8. Juni 2002 ist die Fussballweltmeisterschaft in Japan und Südkorea im vollen Gange – ohne Schweizer Beteiligung. Im Freiamt spielt das keine Rolle. «Der 8. Juni 2002 war unser ‹WM-Finalspiel›, ein grosses Ereignis, ein grosses Fussball- und Gesellschaftsfest», erzählt Andy Wyder, der damals Präsident des FC Wohlen war.

Der «WM-Final» des FCW ist das Spiel gegen den FC Schaffhausen. Es geht um nichts Geringeres als den Aufstieg in die Nationalliga B. Drei Teams sind in den Aufstiegsspielen. Zwei davon lösen das Ticket für die zweithöchste Spielklasse. Die erste Partie bestreitet Wohlen in Altstetten gegen den SC YF Juventus Zürich und gewinnt mit 2:1. Alessio Passerini, damals Abwehrspieler und heute Sportchef beim FC Wohlen, erinnert sich. «Im Vorfeld des Spiels gegen YF wurden wir im ‹Freihof› einquartiert, um unsere Ruhe zu haben. In Altstetten waren dann Leute aus Wohlen mit Trommeln vor Ort, die uns angefeuert haben. So etwas hatte ich in Wohlen vorher nie gesehen.»

Auch Ruedi «Digo» Schwegler, der grösste FCW-Fan aller Zeiten, war schon vom Vorfeld der Aufstiegspartie beeindruckt. «Nie im Leben hätte ich gedacht, dass wir in Altstetten gewinnen», erinnert sich «Digo», der schon als Kind mit dem Velo von Besenbüren nach Wohlen fuhr, um sich die Spiele anzusehen. Heute ist «Digo» pensioniert und nach wie vor an fast jedem Spiel des FCW anzutreffen. In all den Jahren hat Schwegler unzählige Partien der Freiämter gesehen. Aber das Duell gegen Schaffhausen ist in besonderer Erinnerung geblieben.

90 Minuten zittern

2300 Zuschauer finden den Weg auf die Paul-Walser-Stiftung. Aus heutiger Sicht eine surreale Zahl für ein Amateurfussballspiel. Selbst ohne Corona. «Da waren Leute vor Ort, die ich vor- und nachher nie mehr in Wohlen an einem Spiel gesehen habe», erzählt Schwegler. «Es waren halt nicht nur Wohler da und auch nicht nur Fussballfans. Das war für die ganze Region ein grosses Ding.» Das beweist auch der «Wohler Anzeiger». Nachdem der Aufstieg in trockenen Tüchern ist, würdigt die Zeitung das mit einer zwölfseitigen Sonderbeilage.

Doch bis der Aufstieg unter Dach und Fach war, mussten 90 Minuten gegen Schaff hausen überstanden werden. «Die Ausgangslage war gut. Es musste schon viel schiefgehen, dass der Aufstieg nicht gelingt. Ich habe dennoch das ganze Spiel über gebangt», erzählt Schwegler. Die Munotstädter sind als Favorit ins Freiamt angereist. «Unsere Jungs waren besser. Sie hätten eigentlich gewinnen können», erinnert sich «Digo». Passerini schliesst sich an. «Es war kein besonders attraktives Spiel. Aber wir hatten es im Griff. Wir wussten, dass uns ein Punkt reicht, und Schaffhausen hatte Respekt davor, in einen Konter zu laufen.» Als Schiedsrichter Bruno Grossen beim Stand von 0:0 abpfeift, wird die Paul-Walser-Stiftung zur Partymeile. Schwegler: «Ich bin erst mal zwei Runden um den Platz gerannt und habe nur gejubelt.»

Gunst der Stunde gnadenlos ausgenutzt

«Ein Traum wird wahr. FCW – Nati B», steht auf den Shirts der feiernden Wohlen-Spieler. Martin Rueda, Spieletrainer, Ex-Profi, WM-Fahrer mit der Schweiz 1994. Er war der grosse Name im Team. Die restliche Truppe, die den Traum wahrwerden liess, bestand aus Amateuren. Viele aus der Region. 13 weitere Spieler standen neben Rueda gegen Schaffhausen im Einsatz. Claudio Patusi, Francesco Sessa, Alessio Passerini, Vladimir Martinovic, Francesco Nucera, Andrea Del Sole, Flavio Gastaldi, Gerardo und Carmine Viceconte, Franz Schmid, Dino Schmidt, Zoran Jovanovic und Remo Di Jorio wurden am 8. Juni 2002 zu Helden.

Dabei war der Aufstieg kein Ziel der Freiämter. Wyder: «Die damalige Nationalliga B war auch nach dem Aufstieg in die 1. Liga kein Thema. Das war sehr weit weg. Auch für Trainer und Spieler. Wir waren reine Amateure und ein ambitionierter Verein im Aargau. Unser Ziel war, hinter dem FC Aarau und dem FC Baden eine solide Nummer drei im Kanton zu sein. Dieses Ziel war realistisch.» Der FCW erreicht dennoch bereits 2000 die Aufstiegsspiele gegen Locarno. Wyder: «Das war schon genial. Es fehlte wenig. Dass es zwei Jahre später nochmals in die Endausmarchung reichte und von drei Finalisten zwei aufsteigen konnten, war ‹eine Gunst der Stunde›. Wir nutzten diese einmalige Chance gnadenlos.»

Die Bilder von damals haben sich bei Wyder eingeprägt. «Die Leute kamen in Scharen, die Festwirtschaft boomte, unzählige Helferinnen und Helfer unterstützen uns an diesem Tag. Ich habe nach Spielende noch nie so viele ‹happy people› gesehen, die Stimmung war einmalig schön und gelöst.» Die Party ging bis in die frühen Morgenstunden weiter. «Wir waren zuerst in der ‹Frohburg› und dann in der ‹Frohen Aussicht›», erinnert sich Schwegler. «Es war gegen 6 Uhr morgens, als ich zu Hause war.» Wyder: «Ob FCW-Mitglied, Fan, Sponsor, Gönner, Politiker oder einfach Zaungast, alle waren überwältigt vom Erfolg des FC Wohlen.»

Aufstieg mit Klassenerhaltsgarantie

Und die Party sollte noch lange weitergehen. Solche Cinderella-Storys von Teams in der NLB halten oft nur eine Spielzeit. Einem eingefleischten Fussballfan wie «Digo» Schwegler war das klar. «Im Normalfall hätte ich gesagt, wir nehmen jetzt die eine Saison oben mit und schauen, ob es für den Klassenerhalt reicht.» Diese Frage hat sich gar nicht gestellt. Philipp Stöckli, damaliger Sportredaktor beim «Wohler Anzeiger», überbrachte in den zwölf Sonderseiten die reglementarische frohe Botschaft. «Wohlens Glück im Glück ist die Erweiterung der Nationalliga B auf 16 Teams im Sommer 2003. Da in der nächsten Saison keine Absteiger ermittelt werden, bietet sich dem Club die Zeit, welche er in der 1. Liga nicht hatte. Zeit, sich auf neuem Boden zurechtzufinden.»

Für Andy Wyder war es schön zu sehen, wie der Aufstieg die Region zusammengeschweisst hat und ihr neues Selbstvertrauen verliehen wurde. «Der Aufstieg in die zweithöchste Spielklasse der Schweiz war ein sportliches Ausrufezeichen eines Amateurvereins. Die Fussballschweiz nahm mit Erstaunen Kenntnis von dieser Geschichte», erzählt er. «Wir erlebten nach dem Aufstieg eine grosse Solidarität bei den Sponsoren in der Region Freiamt. »

Schwegler stimmt zu und betont, wie sich die Wahrnehmung der Region nach aussen verändert hat. «Vorher kannte man Wohlen vielleicht durch Ciriaco Sforza oder Andy Hug. Der FC hat die Gemeinde auf die Landkarte gesetzt. Ich habe immer mit Stolz gesagt, dass ich Wohler bin. Von dort, wo Nati-B-Fussball gespielt wird.» 16 Jahre lang blieb das so. Dann zogen die Verantwortlichen den Stecker, weil die zweithöchste Spielklasse nicht mehr finanzierbar war. «Ich wünsche mir, dass ich es nochmals erlebe, dass wir in die Nähe der Challenge League kommen», sagt «Digo» Schwegler. «Und sei es nur, um das Gefühl der Aufstiegsspiele wieder zu erleben. Denn so etwas wie damals zu erleben, das war grossartig.»


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