Vom Nervenkrieg zum Blindensport

  13.07.2021 Sport

Serie «Freiämter Olympioniken»: Daniel Huwyler – Olympia 1984 (Los Angeles), Paralympics 1996 (Atlanta) und 2004 (Athen)

Dreimal ist Daniel Huwyler an olympischen Wettkämpfen dabei. Dreimal in einer anderen Rolle. Der Radsportler mit Heimatort Bünzen erzählt, wieso er Olympia 1984 nicht geniessen konnte und wie ihm sein Einsatz im Paracycling den Einblick in eine andere Welt eröffnet hat.

Josip Lasic

Olympia 1984 in Los Angeles. In der Vierer-Mannschaftsverfolgung im Radfahren holt die Schweiz Rang 7. Mit dabei ist der aus Bünzen stammende Daniel Huwyler. Obwohl das Team ein olympisches Diplom holt, werden die Schweizer in den heimischen Medien kritisiert. Es heisst, dass von den vier Fahrern nur Jörg «Jogi» Müller seine Leistung gebracht habe.

«Das sehe ich anders. Vor dem Wettkampf galt ich eigentlich als der Ersatzmann in unserem Team. Ich durfte dann trotzdem starten und hatte die zweitbeste Zeit hinter Müller. Aus meiner Sicht habe ich meine Leistung gebracht», sagt Huwyler. Damit der heute 58-Jährige starten konnte, fiel ausgerechnet sein Kollege Stephan Joho aus dem Kader. Huwyler und der Bremgarter Joho sind damals beide Mitglieder des VC Wohlen. «Stephan war einer unserer stärksten Fahrer und war danach der Ersatz. Es war nicht seine Schuld, dass es uns nicht so lief. Wir wurden im Vorfeld kaputttrainiert. Auch die anderen beiden im Team, Hansruedi Märki und Hans Ledermann, konnten nicht ihre gewohnten Leistungen zeigen. Auch ich bin nicht herausgestochen, aber gemessen an meiner Rolle im Team bin ich zufrieden.»

Gegeneinander statt miteinander

Die Erinnerungen an die Olympischen Spiele 1984 sind bei Daniel Huwyler mit gemischten Gefühlen verbunden. Einerseits war es für ihn, damals erst 21 Jahre alt, ein grossartiges Gefühl, die Weltstadt Los Angeles zu besuchen. Im olympischen Dorf hat er Kontakt zu anderen Sportlern wie der Schweizer Leichtathletik-Legende Werner Günthör. Trotzdem ist ein fader Beigeschmack bei der Teilnahme dabei. «Ich bin stolz, an den Olympischen Spielen gewesen zu sein, aber wir konnten die Atmosphäre nicht richtig aufsaugen», erzählt er.

An der Eröffnungsfeier sind die Radsportler nicht dabei. Sie werden für die Wettkämpfe geschont. Am nächsten Tag findet schon das erste Rennen statt. Bei der Schlussfeier sind die Radsportler wieder zu Hause. Die Saison geht gleich im Anschluss weiter. «Geniessen konnten wir die Zeit in Los Angeles eigentlich nicht», sagt Huwyler. Insbesondere weil auch die Vorbereitung suboptimal lief. «Ich mache niemandem einen Vorwurf. Heute weiss man viel mehr über Trainingslehre. Damals hat uns der Trainer aber fast gegeneinander ausgespielt, in der Hoffnung, uns zu höheren Leistungen zu pushen. Eingetroffen ist das Gegenteil.»

Fünf Fahrer kämpfen um vier Startplätze bei der Mannschaftsverfolgung. Alle werden so gedrillt, dass sie Hochleistungen abrufen, weil sonst die anderen vier in den Genuss der Startplätze kommen könnten. «Ich finde es schöner, wenn man als Team einen Erfolg holt. Bei uns lief es in der Vorbereitung fast darauf hinaus, dass wir gegeneinander gefahren sind. Aus heutiger Sicht hätten wir vielleicht einen Mentalcoach benötigt, der uns hilft, das Ganze einzuordnen. Und mehr Regenerationszeit hätte uns auch gutgetan.»

Der Freiämter im Exil

Daniel Huwyler ist sich bewusst, dass seine Erzählungen über Olympia 1984 negativer klingen, als sie eigentlich sind. Er ist stolz, dass er an diesem Sportevent dabei sein durfte, aber die Zeit in Los Angeles sei mental nicht einfach gewesen.

Eine Olympiateilnahme war eigentlich auch nie der grosse Traum des Freiämters. Huwyler, dessen Heimatort Bünzen ist, wächst in Sulz im Fricktal auf. Die rund 1000 Einwohner zählende Gemeinde hat in seiner Jugend zwei Sportvereine. Einen Turnverein und einen Radsportclub. «Ich war kurz im Turnverein. Die Wettkämpfe wären aber jeweils sonntags gewesen. Meine Eltern führten ein Restaurant und hätten mich nie fahren können. Wenn ich keine Wettkämpfe bestreiten konnte, hatte ich aber auch keine Lust, zu trainieren. Also wechselte ich zum Radsportclub. Ich hatte ohnehin einen 3 Kilometer langen Schulweg, den ich jeden Tag auf dem Velo zurückgelegt habe. Mir gefiel das Radfahren. Das hat gepasst.»

An diversen Rennen lernt er die damalige Freiämter Radsportelite wie Stephan Joho und Arno Küttel kennen und freundet sich mit ihnen an. Als er die Lehre zum Koch – die Idee war, dass er eines Tages das elterliche Restaurant übernimmt – in Brugg absolviert, ist die Distanz zum Training nach Wohlen und Sulz etwa gleich gross. Der im Fricktal aufgewachsene Freiämter beschliesst, in seine Heimatregion zum VC Wohlen und zu seinen Kollegen zu wechseln.

Es stellt sich heraus, dass ihm die Mannschaftsverfolgung liegt. 1983 kommt Hans Ledermann auf ihn zu und fragt ihn, ob sie ein Viererteam für die Olympischen Spiele 1984 bilden wollen. «Die Idee, an den Olympischen Spielen teilzunehmen, kam nicht von mir», sagt Huwyler lachend.

Die Paralympics: eine andere Welt

Nach den Olympischen Spielen 1984 erhält der Radsportler ein Angebot, um als Profi zu fahren. Doch den Olympioniken plagen Rückenprobleme. 1985 muss er sich operieren lassen. Der Traum vom Profisport geht zu Ende. Ebenso derjenige von weiteren Olympischen Spielen. Erst Jahre später öffnet sich diese Tür wieder.

Seit 1993 ist Daniel Huwyler Mitglied der Radsporttage Gippingen. Nach einem Tandemrennen wird er darauf angesprochen, dass der sehbehinderte Tandemfahrer Toni De Biasi einen Partner sucht. Huwyler und De Biasi verstehen sich auf Anhieb. Zwischen 1995 und 1999 bilden sie ein Duo auf dem Tandem, wobei Daniel Huwyler dem sehbehinderten Athleten als Steuermann dient. Neben diversen Welt- und Europameisterschaftsmedaillen startet das Duo auch an den Paralympics 1996 in Atlanta. «Das war schon etwas anderes. In Atlanta war ich auch an der Eröffnungsfeier», sagt Huwyler.

De Biasi und Huwyler holen einen 5., 7. und 9. Rang und damit zwei weitere olympische Diplome für Huwyler. «Ich sehe das in erster Linie als Leistung von Toni. Er ist ja derjenige mit Handicap. Ich war nur die Unterstützung.»

Nationalcoach der Paracycler

Später wird der Olympionike Rennchef des Paracycling-Teams. Er ist für alle stehenden Sportler verantwortlich. Blinde Fahrer, wie Toni De Biasi, aber auch solche mit Prothesen an Armen oder Beinen. In dieser Rolle konnte er ein drittes Mal an olympische Wettkämpfe zurückkehren. 2004 war er in Athen mit dabei. «Es war beeindruckend, zu sehen, was die Sportler mit Einschränkungen alles leisten können. Wie ein Sportler mit einem Arm sein Rad steuert oder wie die blinden Radsportler mit ihren anderen Sinnen umgehen.»

Huwyler erzählt dazu zwei Anekdoten. Einmal sollte er einen blinden Sportler am Arm halten und führen. Bei jedem potenziellen Hindernis oder einer Stufe hält der Radsportler kurz. «Der blinde Sportler hat mir daraufhin gesagt, dass ich nicht zö- gern muss, sondern einfach gehen soll. Er nehme die Hindernisse schon wahr.» Ein weiteres Mal ist das Team für einen Wettkampf in Lugano gewesen. «Wir waren in einem Restaurant zum Abendessen, das doch ein gutes Stück vom Hotel entfernt war. Ein Sportler mit einer Sehbehinderung und einer, der komplett blind war, wollten nach Hause. Während derjenige mit etwas Restsehvermögen unsicher war, ob sie den Weg ins Hotel finden, hat der Blinde gesagt, es sei kein Problem. Er führe ihn. Und sie kamen ohne Schwierigkeiten im Hotel an.»

Prägende Erlebnisse

Die Erlebnisse an den Paralympics beschreibt Daniel Huwyler als wertvolle Erfahrung.

Mittlerweile wohnt der Olympionike in Villigen. Den VC Wohlen hat er verlassen, als sich auch seine Freunde wie Arno Küttel und Stephan Joho zurückgezogen haben. Ganz dem Radsport entsagt hat er nicht. Nach wie vor ist er im OK der Radsporttage Gippingen. «Ich fahre auch heute noch gern Velo», sagt er.

Aus dem Traum seiner Eltern, dass er eines Tages das Restaurant übernimmt, ist nichts geworden. Obwohl er die Lehre zum Koch abgeschlossen hat, arbeitet er seit 35 Jahren in der Versicherungsbranche. Der Radsport wird immer einen wichtigen Platz in seinem Leben einnehmen. Insbesondere die drei Teilnahmen an den olympischen Wettbewerben. Er hatte jedes Mal eine andere Rolle, konnte aber aus all seinen Funktionen viel mitnehmen.


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