Einander besser verstehen

  01.06.2021 Muri

Kinoabend zum Thema restaurative Justiz

Täter und Opfer, nicht unbedingt desselben Delikts, erzählen ihre Geschichte, ihre Sicht auf die Tat, ihr Umgang damit, ihre Ängste, mit denen sie kämpfen. Das nennt sich restaurative Justiz. Den Opfern soll es helfen, das Erlebte besser verarbeiten zu können oder gar ganz damit abzuschliessen. Und auch den Tätern soll es helfen. Primär, damit sie nicht mehr rückfällig werden, aber auch, dass sie mit dem, was sie getan haben, besser umzugehen lernen. Dieses Thema behandelt der Schweizer Dokumentarfilm «Je ne te voyais pas». Im Kino Mansarde diskutierten im Anschluss zwei interessante Gäste über restaurative Justiz. --ake


Opfer und Täter sitzen vis-à-vis

Im Kino Mansarde stand die opferorientierte Justiz im Zentrum – im Film und in der Diskussion

«Je ne te voyais pas» heisst der Dokumentarfilm des Schweizer Regisseurs François Kohler. Er zeigt, wie sich Täter und Opfer begegnen, miteinander reden, einander gar besser verstehen. Zu diesem Thema äusserten sich Marcel Ruf, Direktor der Justizvollzugsanstalt Lenzburg, und Hansueli Hauenstein, Gefängnisseelsorger.

Annemarie Keusch

«Nein, verzeihen werde ich nie können.» Paul sagts mit zittriger Stimme. Vis-à-vis sitzt Robert, einer der beiden Täter, die damals die Postfiliale ausraubten und Posthalter Pauls Tochter und seiner Frau eine Waffe an den Kopf hielten. Über 22 Jahre ist die Tat her. Robert bezeichnet sich als «Ex-Täter». Die Raubüberfälle liegen Jahre zurück. Er arbeitet mit jungen Leuten, die mit teils ähnlichen Handicaps zu leben haben. Und er ist Co-Leiter des restaurativen Dialogs in Lenzburg. Paul, das Opfer, Robert, der Täter. Dass beide beim selben Delikt dabei waren, ist eine Ausnahme beim restaurativen Dialog.

An acht Sitzungen haben Paul und Robert in der kleinen Gruppe über die Tat gesprochen, Paul aus seiner und Robert aus seiner Sicht. «Zuhören, das ist ein wichtiger Faktor», wird Marcel Ruf, Direktor der Justizvollzugsanstalt Lenzburg, im Anschluss an den Dokumentarfilm sagen. «Alle haben mir zugehört, es war mucksmäuschenstill», so formuliert es Paul im Film. Nach der letzten Sitzung sitzen sich die beiden gegenüber. Paul jagt es die Tränen in die Augen. «Ich glaube, beide Seiten verstehen sich viel besser als vorher. Aber verzeihen, das kann ich dir nicht.» Robert versteht, spricht vom grössten Fehler, dass er im Moment der Tat die Gefühle abgeschaltet habe.

Opfer und Täter zusammenbringen

Paul und Robert sind nur zwei der vielen Protagonisten des Films «Je ne te voyais pas». Alle sind sie entweder Opfer oder Täter eines Gewaltverbrechens. Der Kondukteur, dem die Zähne herausgeschlagen wurden, die junge Frau, die sexuell misshandelt wurde, oder der junge Mann, dem der Kiefer gebrochen wurde. Restaurative Justiz meint nicht nur, dass die Opfer eine Stimme bekommen, auch wenn dies laut Gefängnisseelsorger Hansueli Hauenstein, der als Pfarrer bei der reformierten Kirche Muri Sins tätig ist, einen wichtigen Aspekt darstellt. Restaurative Justiz meint, dass die Opfer mit den Tätern in den Dialog kommen, nicht unbedingt mit «ihren» Tätern, aber mit solchen, die ähnliche Delikte begingen.

Dieses Thema steht im Zentrum des Dokumentarfilms des Schweizer Regisseurs François Kohler. Viele Sequenzen des Films wurden in der Justizvollzugsanstalt Lenzburg mit Direktor Marcel Ruf gedreht. Und weil mit Hansueli Hauenstein ein Pfarrer aus der Region als Gefängnisseelsorger tätig ist, lud das Kino-Mansarde-Team zum Saisonabschluss ein. Beide arbeiten sie im Gefängnis und beide halten sie die Hoffnung auf Resozialisierung der Täterinnen und Täter hoch. Marcel Ruf auch, weil er erste Erfahrungen mit restaurativer Justiz gemacht hat. Er ist überzeugt: «Die Psyche des Opfers nach einer Tat zu heilen, ist alles andere als einfach. Es gibt Leute, die nach einem Einbruch jahrelang nicht schlafen. Das einmal einem Täter zu sagen, tut gut.»

Heilungsprozess anstossen

Zwar ist Hansueli Hauenstein in der Justizvollzugsanstalt Kriens nicht mit restaurativer Justiz in Kontakt. «Dafür ist die Aufenthaltsdauer der Gefangenen zu kurz. Sie sind oft nur während der Untersuchungshaft hier und zu diesem Zeitpunkt gilt die Unschuldsvermutung.» Und auch wenn Hauenstein nur Kontakt mit Tätern hat, sagt er: «Es gibt Täter, die unter ihrem Selbstbild leiden. Dank einer Konfrontation mit einem Opfer kann ein Heilungsprozess angestossen werden.»

Auch sich selber als Täter vergeben

In der Justizvollzugsanstalt Lenzburg kamen schon verschiedene Kleingruppen im restaurativen Dialog zusammen. Direktor Ruf informierte die Gefangenen über das Projekt. Voraussetzungen, Teil davon zu sein, müssen verschiedene erfüllt sein. «Der Täter muss zu seiner Tat stehen, er muss verurteilt sein und sollte kein narzisstischer Selbstdarsteller sein.» So kommen verschiedene Täter und Opfer zusammen. Die Motive, mitzumachen, sind ganz unterschiedlich. Hauenstein weiss: «Sich selber zu vergeben, hat für die Täter einen hohen Stellenwert.» Im Film werden Opfer begleitet, die versuchen, die Last der Tat von ihren Schultern auf jene des Täters zu verlagern. Das Verlangen nach Wissen ist ein weiterer Faktor. Auch wenn Hauenstein sagt, es komme höchst selten vor, dass die Täter Kontakt zu den Opfern aufnehmen wollen. Marcel Ruf fügt an, dass dies im Zuge der restaurativen Justiz öfters vorkomme.

Um nicht rückfällig zu werden

Den Opfern ist es oft wichtig, gehört zu werden, ihre Ängste schildern zu können. «Sonst haben Opfer diese Möglichkeiten nicht, etwa vor Gericht. In diesen Gruppen können sie sagen, was die Tat bei ihnen auslöste, mit welchen Folgen sie zu kämpfen haben», sagt Marcel Ruf. Und auch die Täter bringe das weiter. «Viele sind es sich nicht gewohnt, zuhören zu müssen.» Darum ist Ruf überzeugt, dass die restaurative Justiz ein Modell sei, das Zukunft habe. Nur sind es jetzt vor allem Freiwillige, die dazu beitragen, dass solche Dialoge möglich sind. «Man müsste dies institutionalisieren», ist Marcel Ruf überzeugt. Wichtig sei zudem, dass nicht das Ziel damit verbunden werde, dass die Täter sich reuig zeigen oder dass die Opfer vergeben. «Das kann man nicht erzwingen, beides nicht», ist Hansueli Hauenstein überzeugt.

Das Ziel ist es, mit den Geschichten der Opfer die Täter dahin zu bringen, dass sie nicht rückfällig werden. «Wenn es nur bei einem klappt, lohnt es sich schon.» Dieser Satz kommt von Paul, dem Opfer des Postüberfalls. Und sein Blick verdeutlicht: Er meint ihn ernst.


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