1001 Olympiageschichten

  23.04.2021 Sport

Schlau wie Asterix, stark wie Obelix

«Freiämter Olympioniken»: Ludwig Küng war fünf Mal an den Olympischen Spielen

Kein Freiämter war so oft an Olympischen Spielen dabei wie Ludwig Küng. Der Ringer aus Althäusern hat zu seinen fünf Teilnahmen jede Menge starker Geschichten auf Lager. Wie zum Beispiel diejenige im Jahr 2000 in Sydney, als er Roger Federer half, das Herz seiner heutigen Frau Mirka zu erobern.

Stefan Sprenger

Schaut man Ludwig Küng an, kriegt man ein wohliges Gefühl. Ludi, wie er von allen genannt wird, ist ein Mensch, den man einfach gerne haben muss. Als Sportler war er unglaublich fleissig, ordnete dem Erfolg alles unter. Als Freistilringer schafft er es 1988 (Seoul) und 1992 (Barcelona) an die Olympischen Spiele. Später war er 20 Jahre lang Trainer der Schweizer Ringer-Nati und war 2000 (Sydney), 2004 (Athen) und 2008 (Peking) erneut an Olympia dabei. «Der Glanz der Spiele ist gigantisch», sagt der heute 55-Jährige aus Althäusern.

Roger und Mirka ausgesperrt

Logisch, dass er viele Olympiageschichten auf Lager hat. Die Story mit der grössten Tragweite ereignete sich im Jahr 2000 in Sydney. Die Ringer teilten sich drei Wochen lang ein Haus mit den Tennisspielern. Die Ringer im Parterre, die Tennisspieler im 1. Stock. «Und abends wurde gejasst», erzählt Ludi Küng. Mit dabei: Roger Federer. «Er war ein scheuer Typ», erinnert sich Küng. Ganz anders die extrovertierten Ringer. Ludi Küng und 100-kg-Greco-Mann Urs Bürgler kriegten mit, dass Roger Federer auf Mirka Vavrinec steht. Doch er war zu schüchtern, um bei der Tennisspielerin etwas zu riskieren. Eines Abends, im «Holland-Haus», ergriffen Küng und Bürgler die Initiative. Vor allem Bürgler, der für seine gesellige Art bekannt ist, machte Roger Federer Mut. «Wir wussten, dass Roger auf Mirka steht und haben ihm dann ein wenig geholfen», erzählt Ludi Küng. Die Ringer bugsierten Federer und Vavrinec beim Hinterausgang vor die Tür und sagten: «Jetzt lernt ihr euch kennen.» Federer wollte zuerst nicht, die Ringer liessen ihn aber nicht mehr rein. Federer und Mirka Vavrinec blieben dann eine Viertelstunde vor der Tür und kamen dann lachend wieder rein. «Von da an waren sie ein Paar.» Und sie sind es bis heute geblieben. Dank der Ringer, die beim Verkuppeln des Tennis-Traumpaars tatkräftig mitgeholfen haben.

Die Freundschaft der Ringer zu Federer blieb bestehen. Der Tennisstar besuchte im gleichen Jahr einen Ringerkampf und an den Swiss Indoors übernachtete Ludi Küng bei Federer zu Hause. «An Olympia kommen sich die Sportler eben näher, es entstehen viele Verbindungen», sagt der Freiämter, der Federer vier Jahre später in Athen erneut an den Olympischen Spielen getroffen hat.

Es ist nur eine von vermutlich 1001 schönen Olympiageschichten. Ein tragischer Vorfall ereignete sich 1992 in Barcelona. Die ganze Sportwelt litt mit, als sich Ludi Küng verletzte.


Serie «Freiämter Olympioniken»: Ludwig Küng in Seoul 1988 und Barcelona 1992

Euphorie 1988, Tragödie 1992: Ludwig Küng war ein Jahrhundertringer. Heute blickt er auf fünf Olympiateilnahmen zurück. Zwei als Athlet, drei als Trainer. Seine grössten Errungenschaften sind aber keine Medaillen, sondern heissen Raul und Gina.

Stefan Sprenger

«Lieber Ludi. Ich möchte dir sagen, dass ich stolz auf dich bin. Ich weiss, welche enormen Anstrengungen du auf dich genommen hast, um dein grosses Ziel der Olympiateilnahme zu erreichen. Das Pech hat dir einen brutalen Strich durch deine Träume gezogen.» Dieser Brief stammt aus dem Jahr 1992. Verfasst von Sonja, der Schwester von Ludwig Küng. Passende Worte zu einem gigantischen Drama.

«Oh mein Gott, was für ein Desaster»

Olympia 1992 in Barcelona. Nach monatelangem, eisernem Training ist es so weit. 68 kg Freistil. Ludwig Küng, von allen Ludi genannt, trifft auf den Russen Arsen Fadzajew. «Ausgerechnet Fadzajew», erinnert er sich zurück und wirkt auch heute – rund 30 Jahre später – noch enttäuscht über dieses Giganten-Los. Fadzajew war sechsfacher Weltmeister und vier Jahre zuvor Olympiasieger. «Ich habe trotzdem an meine Chance geglaubt», so Küng.

Der Kampf verläuft einseitig. 11:0 führt Fadzajew. Nach vier Minuten und 19 Sekunden geschieht es. Fadzajew drückt den besten Schweizer Ringer nach unten. Ludi Küng schreit, das Publikum zuckt zusammen. «Tagg» hat es gemacht, wie Küng heute beschreibt. Sein Ellbogen knickt für einen Moment in die falsche Richtung und kugelt aus. «Höllenschmerzen» waren das. Im Internet kann man die Szene heute noch anschauen. Aber Vorsicht: Es ist nichts für sensible Menschen. Der englischsprachige Kommentator sagt aufgebracht: «Oh mein Gott. Was für ein Desaster. Eine heftige Verletzung.» Gegner Fadzajew versucht in aller Hektik, den Ellbogen wieder einzukugeln, dies gelingt jedoch erst dem Schweizer Teamarzt. Die Ambulanz kommt. Küng muss ins Spital. Er wird aus dem Turnier gestrichen. Olympia ist vorbei.

Küng wurde zuletzt vor zwei Jahren am Ellbogen operiert. Die Verletzung ist bis heute spürbar. Wenn er an einem internationalen Grossanlass seinen damaligen Gegner Arsen Fadzajew (der als bester Ringer aller Zeiten gilt) wieder sieht, dann sind die Begegnungen herzlich. «Ich bin ihm nicht böse. Auch wenn es wilde Gerüchte gab, dass er es absichtlich gemacht hat, so glaube ich, es war einfach ein Unfall.» Man merkt: Jener Kampf ist auch heute noch präsent. «Ich habe so viel geopfert, so viel trainiert – und dann das. Ich war am Boden zerstört», meint Ludi Küng.

US-Boys nannten ihn «Schlange»

Vier Jahre zuvor: 1988 in Seoul. Schon die Qualifikation für Olympia war eine gigantische Sache. Für ihn, für das Freiamt, für den Schweizer Ringsport. Auch hier hat er sich akribisch auf seinen Einsatz vorbereitet, war monatelang im Trainingslager in den USA. Die US-Ringer nannten ihn «Schlange» aufgrund seiner unberechenbaren Art, plötzlich anzugreifen.

Am 17. September steigt die Eröffnungsfeier in Seoul. An diesem Tag wird Ludi Küng 23 Jahre alt. 3600 Darsteller und 1500 Tänzer zelebrieren eine gigantische Show. 80 000 Zuschauer schauen zu. Ludi Küng sagt: «Die Eröffnungsfeier war riesig und überschwänglich. Nur meine Vorfreude auf meinen Einsatz war noch grösser. Ich habe mehr trainiert als alle anderen und wusste: An einem guten Tag kann ich eine Medaille holen.»

27. September 1988. 62 kg Freistil. Ludi Küng tritt auf die Matte. Voller Tatendrang. Es ist sein erster Olympiakampf. «Ich war so nervös wie noch nie in meinem Leben.» Diese Nervosität kanalisiert er zu Beginn in eine starke Leistung. Er feiert in den ersten beiden Kämpfen Schultersiege. Danach wird der Höhenflug gebremst. Er verliert knapp gegen einen West- und einen Ostdeutschen. Es gibt keine Medaille.

Kochkünste der Mutter halfen auch nicht

Das Problem: «Ich hatte grosse Mühe, mein Gewicht zu halten. Ich hatte immer weniger Kraft. Damals war das Wissen über die Ernährung noch nicht so gross wie heute. Ich habe zu früh Wasser ausgeschieden», erklärt Küng, der auch heute noch angesäuert wirkt, wenn er über diese verpasste Chance spricht. Doch er ist eben ein positiver Mensch und schiebt lachend hinterher: «Ich habe damals meiner Mutter zwar immer gesagt, was sie kochen soll, aber das nützte auch nur bedingt.»

Küng sagt über den Zauber von Olympia: «Die ersten Spiele in Seoul waren das Gröbste für mich.» An Barcelona hat er aufgrund der Ellbogenverletzung eher zwiespältige Gefühle.

«Grausames Fest» in Aristau

Ob 1988 oder 1992: Der Rückhalt, die Unterstützung und die Euphorie von den Ringern und dem ganzen Freiamt waren gross. «Als ich jeweils wieder nach Hause kam, wurde ich gefeiert, als wäre ich Olympiasieger geworden.» Mit der Kutsche wird er durch das Dorf chauffiert, in der Turnhalle in Aristau steigt ein «grausames Fest», wie Küng lachend sagt. «Feiern konnten wir schon immer.»

Ludi Küng ringt 1996 zum letzten Mal. An jenem Tag wird die RS Freiamt Schweizer Meister. Küng kriegte zu seiner Aktivzeit einige lukrative Angebote von anderen Vereinen. Aus der Deutschen Bundesliga oder der Westschweiz. «Mit Geld wollten sie mich und meinen Bruder Leonz locken. Das war für uns aber keine Option. Wir sind und bleiben Freiämter.»

«In Sydney waren die besten Olympischen Spiele»

Aufgewachsen ist er im Försterhaus in Althäusern, wo seine Mutter Hildegard heute noch lebt. Vater Leonz starb vor zwei Jahren. Er hat insgesamt zwei Brüder und drei Schwestern. Zum Ringen fand er durch die beiden Brüder der Mutter, die bei der RS Freiamt auf der Matte standen. «Als junge Buben gingen wir ins Schwingen, Ringen und Nationalturnen. Unser Vater musste uns immer herumfahren», sagt Küng lachend. Wie der Vater und der Bruder war auch Ludi ein Forstwart. Während Bruder Leonz dem Beruf bis heute treu blieb, wechselte Küng vor 22 Jahren in den Gartenbaubetrieb des Cousins. Bei der Guggenbühl AG in Bonstetten arbeitet er als Landschaftsgärtner.

Nicht nur wegen seines Berufs wirkt der heute 55-Jährige topfit. Kein Gramm Fett, eine Top-Kondition, und nach wie vor ist seine Liebe zum Ringsport grenzenlos. In seiner Aktivkarriere holte er 20-mal den Einzeltitel bei den Schweizer Meisterschaften, feierte mit der Ringerstaffel Freiamt mehrere Titel in der Mannschaftsmeisterschaft und holte an Welt- und Europameisterschaften mehrere Top-Ten-Platzierungen. Danach ging es als Nationaltrainer weiter. Während 20 Jahren war Ludi Küng der Chef der Schweizer Freistilringer.

Durch dieses Engagement ist er an weiteren drei Olympiaden dabei. 2000 in Sydney, 2004 in Athen und 2008 in Peking. «In Sydney waren die besten Olympischen Spiele, die ich je erlebt habe. Die Sporteuphorie der Australier ist unglaublich.» Der 4. Rang vom Freiämter Reto Bucher in Athen war ein Höhepunkt.

An allen Olympischen Spielen, ob als Athlet oder als Trainer, galt das Motto: «Zuerst topseriös und nach dem Wettkampf auch mal exzessiv im Ausgang», meint er und zwinkert mit seinen ozeanblauen Augen. Es ist Tradition, dass die Ringer so hart trainieren wie kaum andere Sportler. Es ist aber auch Tradition, dass sie danach auf den Putz hauen.

Ein Tag ohne Ringen: «Ich bin fast durchgedreht»

2016 trat er als Nationaltrainer zurück. Heute ist er «nur» noch bei der RS Freiamt als Coach tätig. «Ohne Ringen geht es nicht», sagt Küng und macht gleich ein Beispiel aus früheren Aktivtagen: «Ganz ehrlich. Wenn ich vor 25 Jahren in die Ferien ging und einen Tag nicht ringen konnte, bin ich fast durchgedreht.» Nebst dem Ringen ist er auch leidenschaftlicher Skifahrer und spielt gerne Squash. Seinen unbändigen Bewegungsdrang hat er weitergegeben. Vor vier Jahren kam Sohn Raul zur Welt. «Er ist wie ich, enorm aktiv.» Bereits sechs Jahre alt ist Tochter Gina. Seine beiden Kinder und seine Frau Geraldine (von allen Cherry genannt) sind seine grössten Lebenswürfe. «Da vergisst man die Olympischen Spiele schnell. Ich liebe meine Familie über alles.»

Die heutigen Erfolge der RS Freiamt, die hervorragenden Vereinsstrukturen, der riesige Zusammenhalt, vieles ist zu einem Teil zurückzuführen auf die Küng-Brüder Leonz und Ludi, die in ihrer Zeit die nationalen Gewichtsklassen dominierten.

«Olympia hatte gute und schlechte Sachen»

Natürlich waren die Olympiateilnahmen von Ludi Küng nachhaltend und inspirierend. Nach ihm schafften es Reto Bucher und Pascal Strebel an die Olympischen Spiele. Küng meint: «Wir haben viele starke Junioren im Verein, der nächste Olympiateilnehmer aus der RS Freiamt wird folgen.»

Die Euphorie 1988, die Tragödie 1992. «Olympia hatte gute und schlechte Sachen. Aber es war immer eine gigantische Erfahrung» – und die gibt er gerne weiter.

Der Sportredaktion zeigt Ludi Küng vier Ordner voller Bilder, Zeitungsausschnitte und Erinnerungen aus seinen Olympiateilnahmen. Unzählige Bilder mit anderen Sportlern wie Jakob Hlasek, Werner Günthör oder Roger Federer.

In einem Zeitungsartikel im «Wohler Anzeiger» wird vor rund 30 Jahren beschrieben, wie gerne Küng die Abenteuer von Asterix und Obelix liest. Im Artikel heisst es: «Er ist schlau und listig wie Asterix und stark und mutig wie Obelix.» Nur einen Zaubertrank brauchte Ludi Küng nie.


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