«Verstehe es – irgendwie»

  07.04.2021 Muri

Bertha Putz aus Muri musste als Kind aus dem Sudetenland fliehen

Bertha Putz war elf Jahre alt, als sie 1945 mit ihrer Familie und zahllosen anderen Deutschen das Sudetenland (heute Tschechien) verlassen musste. Nach jahrelanger Flucht fasste die heute 86-Jährige in der Schweiz Fuss und fand in Muri ihre neue Heimat.

Sabrina Salm

Vertrieben zu werden und unerwünscht zu sein. Dies musste Bertha Putz bereits in jungen Jahren erleben. Sie und ihre Familie stammen aus Marienbad im Egerland. Dies liegt im Sudetenland und gehört heute politisch zu Tschechien. Nach dem Münchner Abkommen von 1938 und dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht wurde Egerland mit rund 88 000 Einwohnern Bestandteil des Deutschen Reichs. Nach dem Kriegsende von 1945 wurden die Deutschböhmen ausgewiesen und vertrieben.

Groll haben bringt nichts

Es ist ein Teil einer Geschichte, die nicht gross bekannt ist. Nach dem grausamen Machtregime von Hitler und dem fürchterlichen Krieg gab es noch die Vertreibung der Deutschstämmigen aus Grenzgebieten. Wie so oft, traf es auch bei diesem geschichtlichen Ereignis vor allem die unschuldigen Menschen. «Als Kind wusste ich nicht, warum mir so viel Hass entgegenkam», erzählt Bertha Putz, die heute im Alterswohnheim St. Martin in Muri lebt. Die Verbannung aus ihrer früheren Heimat prägte sie. «Unser Haus wurde niedergebrannt und wir mussten gehen. Doch nicht mal die Deutschen wollten uns.» Auf der Flucht verlor die damals Elfjährige alles, was ihr wichtig war. «Wir hatten nicht viel. Doch auch das wurde mir genommen.»

Wie Schachfiguren wurden sie von einem Ort zum Nächsten versetzt. Bis Bertha Putz in den 60er-Jahren die Chance ergriff und in die Schweiz kam. Hier konnte sie arbeiten. Sie fand im Pflegeberuf ihre Erfüllung. Viel spricht die 86-Jährige nicht über das Erlebte. Hass oder Verbitterung spüre sie nicht. «Auch die Tschechen mussten unter Hitler Grausames erleben. Dass sie uns, die Deutschstämmigen, nach Kriegsende nicht mehr bei sich haben wollten, verstehe ich teilweise – irgendwie.» Obwohl es das Geschehene nicht rechtfertige. Doch Groll bringe nichts. «Man muss das Positive sehen.»

Das Leben von Bertha Putz schildert viel Trauriges. Doch trotz allem strahlt sie Mut und Zuversicht aus.


«Wir konnten doch nichts dafür»

Bertha Putz wurde 1945 aus dem Sudetenland vertrieben und hat in der Schweiz Fuss gefasst

Bertha Putz erlebte sowohl die Machtübernahme Deutschlands als auch nach dem Krieg die Verbannung aus ihrer Heimat in der damaligen Tschechoslowakei. Sie ist Zeitzeugin einer radikalen Epoche Europas. In ihrem Leben hat sie viel Willkür und Hass erlebt. Doch Verbitterung ist bei ihr fehl am Platz.

Sabrina Salm

«Die Tschechen wollten keine Deutschen mehr», erzählt Bertha Putz und nippt an ihrem Kaffee. «Hitler hatte sie unterdrückt und so wollten sie uns loswerden.» Sie war damals noch ein Kind und erzählt nun das, wovon ihre Eltern ihr berichtet haben. «Wir Kinder wussten nicht, weshalb uns ein derartiger Hass entgegenkam. Wir spürten nur, dass uns die Tschechen nicht wollten, und auch die Deutschen wollten uns nicht aufnehmen. So wurden wir einfach immer vertrieben und waren nirgends erwünscht.» Mit ihren Eltern wuchs Bertha Putz, die 1934 geboren wurde, als älteste von vier Kindern in Egerland an der Grenze zu Bayern auf einem kleinen Bauernhof auf. Geprägt wurde ihr junges Leben durch den Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1938 und die Kriegsgeschehnisse während der folgenden sechs Jahre. Ihr Vater wurde in den Krieg eingezogen.

Egerland ist Teil vom Sudetenland. Dieses Gebiet war in der Geschichte schon immer umkämpft. Zunächst gehörte es zu Österreich-Ungarn, danach zur Tschechoslowakei und dann zum Deutschen Reich. Heute gehört das Sudetenland politisch zu Tschechien.

Alles ihr Wertvolle verloren

Nach Kriegsende wurden die Deutschstämmigen aus dem Sudetenland vertrieben. «Alles wurde niedergebrannt.» Bertha Putz schluckt, als sie von den Ruinen ihres Elternhauses und ihrer Heimat erzählt. Die Erinnerungen an diese Zeit sind für die heute 86-Jährige nicht leicht. Immer wieder versucht sie die richtigen Worte zu finden. «So viele Erinnerungen. Manchmal sind sie klar da und manchmal nicht», versucht sie sich zu erklären. Mit den Erinnerungen kommen auch die Emotionen hoch. Ihre Augen füllen sich mit Tränen. «Unter allen hat es Hass gegeben.»

Bertha Putz macht eine lange Pause. Sie sitzt am Gemeinschaftstisch im Altersheim St. Martin und richtet ihr königsblaues Jäckchen. Nachdem sie sich gesammelt hat, erzählt sie, was mit ihr und ihrer Familie weiter geschah. Sie kamen zuerst in der Tschechoslowakei in ein Lager. «Bis man wusste, wohin wir können.» Nach dem Lager in Tschechien kamen sie in ein Lager in Ostdeutschland «mit sieben weiteren Familien». Auf der Flucht führte die damals Elfjährige ihre wenigen Wertsachen mit. In einem Köfferchen trug sie ihre Katze und den besonders hübschen böhmischen Weihnachtsschmuck mit. Unglücklicherweise platzte das Köfferchen auf und die Katze sprang davon, der Christbaumschmuck fiel zu Boden und wurde von der marschierenden Menschenschlange zertrampelt.

Sie setzt sich aufrecht hin. «Wissen Sie, als Kind verletzt einen das sehr, wenn man alles verliert, was einem wichtig ist.» Nachdenklich meint Bertha Putz, dass sie die Situation und das Verhalten der Tschechen teilweise begreife. «Sie hatten es auch nicht leicht und wollten keine Deutschstämmigen mehr bei sich haben. Zu viel Grausames ist passiert.» Sie schweigt und senkt den Kopf. Nach einer Weile schaut sie hoch und sagt dann mit klarem Blick: «Wir konnten doch nichts dafür.»

Von einem Ort zum anderen geschoben

Wie Schachfiguren wurden sie von einem Ort zum anderen geschoben. Acht Wochen später erfolgte eine Zuweisung zu einer Bauernfamilie in Sachsen-Anhalt. Willkommen seien sie auch hier nicht wirklich gewesen. Die Sprachbarriere war dabei auch ein Hindernis. «Die Bauernfamilie hatte einen sächsischen Dialekt und wir sprachen Sudetendeutsch. Es war schwierig zu kommunizieren.» Mit der Zeit seien sie sich zweckmässig nähergekommen. «Dadurch, dass wir auf dem Hof halfen, hatten wir auch zu essen. Mit der Zeit ist es besser geworden.» Sieben Jahre waren sie da.

Die meisten Sudetendeutschen fanden damals in Bayern Zuflucht. «Auch meine Grossmutter war dort. Dank ihr fand mein Vater eine Stelle auf einem Hof in Bayern. Ich und mein Bruder konnten mit, dank einer Sonderbewilligung.» Zu diesem Zeitpunkt war Deutschland durch die Besatzungsmächte in Ost- und Westdeutschland kontrolliert. Die Grenzen waren geschlossen. «Damit wir nach Bayern konnten, mussten wir über Berlin reisen und von dort mit dem Flugzeug nach Bayern. Wir hatten immer Angst, dass wir wieder zurückgeschickt werden.» Doch sie konnten bleiben.

Erfüllung im Pflegeberuf gefunden

Bertha Putz hat in Deutschland Herrenschneiderin gelernt. Der Beruf machte ihr aber nicht sonderlich Freude. «Ich sah dann ein Inserat, dass in der Schweiz auf einem Bauernhof eine Magd gesucht wird. Also bewarb ich mich da.» Sie wurde genommen. «Zwar gefiel es mir, aber bei dieser Arbeit fand ich keine Befriedigung.» Als Haushaltshilfe jobbte sie dann an verschiedenen Orten in der Schweiz. Dabei kümmerte sie sich auch einmal um ältere Personen. «Das sagte mir zu und als ich ein Inserat eines Pflegeheims sah, nutzte ich die Chance.» Im Pflegeberuf fand sie ihre Erfüllung. Sie besuchte die Pflegefachschule und blieb ihr Leben lang in diesem Beruf. Bis zu ihrer Pensionierung arbeitete sie 19 Jahre im Spital Muri. «In Muri fand ich meine neue Heimat. Mir gefällt es gut – auch hier im St. Martin.»
Ihre Entscheidung in die Schweiz zu kommen, bereut sie nicht. Die Mentalität in der Schweiz sei anders und hier konnte sie das Erlebte verarbeiten. Ebenfalls auf Pilgerreisen konnte sie sich mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Sie war in Lourdes, Fátima und zweimal in Israel. «Das waren so schöne Reisen. Sie gaben mir Kraft», sagt sie lächelnd und schwelgt in ihren Erinnerungen. Auf den Pilgerreisen war sie unter Gleichgesinnten. Konnte darüber sprechen. Heute redet sie nicht mehr viel über die Vergangenheit. «Mit anderen älteren Leuten hier kann ich nicht darüber sprechen. Denn sie haben es nicht erlebt.»

Der Glaube gibt ihr Halt

In den späteren Lebensjahren erkrankte sie an Brust- und Unterleibskrebs. Das sei vorbeigegangen. Heute beschäftige sie Parkinson. Bertha Putz liest viel, will sich geistig fit halten. Dass ihr das gelingt, merkt man gut. Obwohl sie schmunzelnd sagt: «Leider leidet im Alter das Gedächtnis.» Und auch das Gehör, was ihr etwas zu schaffen macht.

Trotz den schweren Prüfungen in ihrem Leben ist Bertha Putz nicht verbittert. Doch wie konnte ihr das gelingen? «Es ist manchmal schwierig. Doch es ist wichtig, dass man das Positive sieht und daran denkt.» Bertha Putz schaut aus dem Fenster, dann auf die Uhr. Bald gibt es Mittagessen. Abschliessend sagt sie: «Es hört sich vielleicht komisch an, aber für das Erlebte bin ich trotz allem irgendwie dankbar. Es gehört zu mir.» Ihr Glaube gebe ihr dabei Halt. Und die Zeilen eines Kirchenliedes: «Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh mit mancherlei Beschwerden der ewigen Heimat zu.»


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