Tennisplatz statt Schanze

  12.03.2021 Sport

Mit einem Sprung katapultierte sich Evelyne Leu 2006 in die Herzen der Schweizer Sportfans

Sie nahm an vier Olympischen Spielen teil, gewann 2006 in Turin die Goldmedaille. Mittlerweile lebt die ehemalige Skiakrobatin Evelyne Leu in Bünzen. Über die Schanze springt sie längst nicht mehr. Dafür ist sie auf dem Tennisplatz anzutreffen.

Annemarie Keusch

Sie hatte alles im Griff. «Es war der perfekte Wettkampf», sagt Evelyne Leu auch 15 Jahre später noch. Zwei Sprünge, kein Streichresultat. Alles musste passen. Und ein bisschen rechnen musste Evelyne Leu auch noch. «Heute kann ich darüber lachen.» 2006 beim Anlauf auf die Schanze war die Lage ernst. Springt sie im ersten Sprung unter die ersten drei, darf sie den «Full-Full-Full» nicht erstmals wettkampfmässig präsentieren. So hat sie es mit dem Trainer am Vorabend abgemacht. «Also versuchte ich zu taktieren, um den ‹Full-Full-Full› zeigen zu können», lächelt sie. Leu war nach dem ersten Sprung Fünfte, der «Full-Full-Full» folgte. Der Rest ist Schweizer Sportgeschichte. Leu wurde Skiakrobatik-Olympiasiegerin.

Auf gleicher Stufe wie Idole

Es war der grosse Sprung ins Rampenlicht für die gebürtige Baselbieterin. Plötzlich stand sie auf der gleichen Ebene wie ihre sportlichen Idole. «Vor allem als Kind eiferte ich den grossen Sportlerinnen und Sportlern nach, allen voran Pirmin Zurbriggen.» Von einem grossen Schweizer Sportler ist sie immer noch grosser Fan: Roger Federer. Zurbriggen, Federer und Leu – alle drei sind sie Goldgewinner an Olympischen Spielen. Richtig realisieren kann das Leu heute noch nicht.

Mit Roger Federer verbindet sie aber nicht nur die Olympia-Goldmedaille und die Herkunft, sondern auch die Passion für das Tennis. Wieder lacht Evelyne Leu. «Vergleichen würde ich das jetzt nicht unbedingt.» Schon immer spielte sie gerne Tennis, seit ihrem Rücktritt viel intensiver. Leu ist als Trainerin beim Tennisclub Bremgarten tätig, bringt Juniorinnen und Junioren das Spiel mit dem Filzball bei. «Das macht mir ganz grossen Spass», sagt die 44-Jährige. Spass macht es ihr auch, zurückzuschauen auf ihre vier Teilnahmen an Olympischen Spielen.


Der grosse Sprung ins Rampenlicht

Serie «Freiämter Olympioniken»: Die Skiakrobatik-Olympiasiegerin von 2006 lebt in Bünzen

Evelyne Leu startete an vier Olympischen Spielen. In ihrer Disziplin, die damals noch Skiakrobatik hiess und heute als Aerials bezeichnet wird, war sie eine der Besten. Ihr ganzes Können konnte sie aber nur an den einen Spielen abrufen, 2006 in Turin. Leu krönte sich mit ihrem berühmten «Full-Full-Full» zur Olympiasiegerin.

Annemarie Keusch

«Ich mache einen Salto.» Der sechsjährige Nevin lacht. Er springt ein paarmal hoch auf dem Trampolin im Garten. «Jetzt», ruft er, hebt ab und setzt zum Salto an. «Wie Mama.» Evelyne Leu grinst. «Mir wird es schwindlig, wenn ich heute Saltos mache. Das Draufgängerische ist komplett weg.» Die Szene spielt sich mitten in Bünzen ab. Seit 2009 ist die kleine Freiämter Gemeinde die Heimat von Evelyne Leu und ihrer Familie. Dass sie im Freiamt landeten, war Zufall. «Wir suchten Bauland», sagt die gebürtige Baselbieterin, die damals in Mettmenstetten lebte – möglichst nahe an der dortigen Sprungschanze.

Die Bodenpreise seien dort kaum zu zahlen gewesen, in Bünzen wurden sie fündig. Hier fühlen sie sich wohl. «Das Ländliche», sagt Leu auf die Frage, was ihr besonders gefällt. Ideal zum Velofahren, nahe an der Reuss und trotzdem nahe an grösseren Städten. Hier lebt Leu zusammen mit ihrem Mann und den beiden Söhnen Corsin (8-jährig) und Nevin (6).

Über Kunst- und Geräteturnen zur Skiakrobatik

Im Alltag präsent sei ihre Sportkarriere nicht. «Ich denke nicht mehr viel daran, nur punktuell», sagt Leu. Und seit zwei Jahren hängt ihre Goldmedaille von den Olympischen Spielen in Turin im Wohnzimmer. «Jetzt hat die Medaille den Platz, den sie verdient.» Vorher war sie mit anderen Pokalen und Erinnerungen an die 16 Jahre Spitzensport in Kisten auf dem Estrich verstaut. «Das ist irgendwie alles ziemlich weit weg.»

Aber die Erinnerungen, die sind schon noch da. An vier Olympischen Spielen nahm Leu teil, 1998 in Nagano, 2002 in Salt Lake City, 2006 in Turin und 2010 in Vancouver. Acht Jahre nachdem sie «richtig angefangen» hat mit Skiakrobatik, erfüllte sich Leu 1998 den olympischen Traum. Vorher holte sie sich die Grundlagen für diesen Sport im Kunst- und Geräteturnen. Über eine Kollegin fand sie zur Skiakrobatik. «Gekannt habe ich das vorher nicht. Klar, ich hatte auch schon Athletinnen und Athleten gesehen, die über Schanzen sprangen, aber richtig befasst habe ich mich nicht damit.» Entsprechend gross sei die Überwindung gewesen beim ersten Sprung. Auch wenn damals die Schanze weniger als einen Meter gross war. 1998 in Nagano mass sie 3,5 Meter, später vier Meter. «Immer grösser, höher, spektakulärer. Das wollen die Leute halt sehen.»

Hoher Stellenwert der Olympischen Winterspiele

Erinnerungen, Anekdoten und Geschichten weiss Leu von all ihren vier Olympischen Spielen zu erzählen. 1998 in Nagano waren die ersten. «Da kam ich aus dem Staunen nicht heraus», sagt die heute 44-Jährige auch über 20 Jahre später. Die vielen Eindrücke hätten sie dermassen geprägt, dass der eigene Wettkampf in den Erinnerungen fast untergeht. «Ich weiss noch, dass ich die Schlussfeier zu Hause am Fernseher verfolgte und dachte, ich hätte die ganzen Olympischen Spiele verpasst. Dabei war ich selber als Athletin dabei. Das war sehr surreal für mich.» Fünfzehnte wurde sie.

Die Olympischen Winterspiele hatten in der Familie Leu schon immer einen hohen Stellenwert. «Wir hatten keinen Fernseher zu Hause, aber immer für die Winterspiele nahm mein Vater, der im Stadttheater Basel arbeitete, einen mit nach Hause. Die ganze Familie sass dann stundenlang davor und drückte die Daumen.»

Von ganz oben bis ganz unten

Über die Spiele, die vier Jahre später im amerikanischen Salt Lake City stattfanden, sagt Leu, es seien die schönsten gewesen. «Die Atmosphäre, das sportbegeisterte Publikum, das allen zujubelte, unsere Mäntel.» Ob sie den Mantel, mit dem Simon Ammann weltweit als Harry Potter bekannt wurde, wirklich schön fand? Evelyne Leu lacht. «Wir fielen immerhin auf. Mit diesem Mantel wurden wir alle paar Meter angesprochen und um ein Foto gebeten.» Für Leu waren es auch die Olympischen Spiele mit den extremsten Emotionen.

Einen Monat vor dem Wettkampf riss ihr Kreuzband. «Der Wettlauf gegen die Zeit brauchte unglaublich viel Energie.» Davon war in der Qualifikation für die zwölf Finalteilnehmerinnen nichts zu sehen. Leu gewann haushoch. Der tiefe Fall folgte im Final sprichwörtlich, zwei Stürze und der elfte Rang. «Ich war mental kaputt, nichts ging mehr.» Für sie und ihr Umfeld schwer zu verstehen. Diese emotionale Achterbahn innerhalb weniger Stunden sei mit ein Grund, weshalb ihre damalige Physiotherapeutin die Ausbildung als Sportpsychologin absolvierte. Die beiden sind heute noch befreundet. Heute kann Evelyne Leu darüber lachen. «Ohne diese Erfahrungen wäre es vielleicht vier Jahre später anders gekommen.»

«Full-Full-Full» zigmal visualisiert

2006 in Turin folgte die Krönung. «Wir fuhren mit dem Auto hin, die Athleten waren auf drei Dörfer aufgeteilt und wir lebten im kleinsten. Insofern waren es eigentlich die am wenigsten imposanten Spiele.» Die Atmosphäre sei trotzdem speziell gewesen. «Weil es so nah war, unterstützte mich der ganze Fanclub vor Ort, auch Familie und Freunde waren dabei und gaben Kraft.» Und diese Kraft verlieh Leu Flügel. Mit dem «Full-Full-Full», drei Schrauben und drei Saltos, im zweiten Sprung kürte sie sich als Olympiasiegerin. Es war das erste Mal nach vier Jahren, dass sie diesen Sprung an einem Wettkampf zeigte.

Plötzlich Olympiasiegerin

Und dabei war es gar nicht so geplant. Leu erinnert sich: «Am Vorabend besprach ich mit dem Trainer den Wettkampf und wir einigten uns darauf, dass ich diesen sehr schwierigen Sprung nur mache, wenn ich nach dem ersten Sprung nicht unter den besten drei Athletinnen bin.» Leu war fünfte, «zum Glück». Denn für die damals 30-Jährige war klar, dass sie den «Full-Full-Full» springen wollte. «Ein halbes Jahr vorher habe ich jeden Abend diesen Wettkampf visualisiert und dieser Sprung kam immer vor.»

Gesprudelt habe es, als sie den Sprung stehen konnte. «Mir war sofort klar, dass das für eine Medaille reicht.» Es sei der emotionalste Moment gewesen. Dass es später Gold wurde, war das i-Tüpfelchen. Der «Full-Full-Full» war Leus Sprung ins Rampenlicht. «Was das bedeutet, war mir in diesem Moment überhaupt nicht bewusst. In den Athleten-Dörfern oder an Veranstaltungen getraute ich mich nicht, Olympiasiegerinnen oder -sieger anzusprechen, und jetzt war ich plötzlich selber eine.» Aufgesaugt habe sie die vielen schönen Momente, die Interviews, die Medaillenübergabe, die erst einen Tag später stattfand. «Das war wunderschön, auch weil ich zuoberst auf dem Treppchen den Erfolg für mich ganz alleine realisieren konnte.»

15 Jahre später ist es noch immer der Stolz, der überwiegt, wenn Evelyne Leu an ihre olympische Karriere denkt. Auch wenn 2010 in Vancouver mit dem 16. Platz noch eine Enttäuschung folgte und Leu über dieses Kapitel sagt, dass da gar nichts übereingestimmt habe und sie im Frühling darauf ihre Karriere beendete, öffnete ihr der Titel ganz viele Türen. Auch finanziell, wie sie sagt. «Ohne diesen Titel wäre ich nach der Karriere bei null gestartet. So geht es vielen Sportlerinnen und Sportlern in Randsportarten. Und ja, da ist man schon neidisch, wenn andere immer mediale Präsenz haben und wir nicht.»

Tennislehrerin in Bremgarten

Mit ihrer Sportart, die neu Aerials heisst, ist Evelyne Leu kaum mehr verbunden. «Wann ich letztmals über die Wasserschanze in Mettmenstetten ging? Im Herbst 2009 wahrscheinlich.» Das Verlangen danach sei weg. Aber der Sport spielt in ihrem Leben nach wie vor eine wichtige Rolle. Evelyne Leu ist als Tennislehrerin in Bremgarten tätig. «Dieser Sport faszinierte mich schon während meiner Aktivkarriere. Es freut mich, diese Leidenschaft jetzt intensiver ausleben zu dürfen.» Oft denkt die 44-Jährige nicht zurück. Vielmehr lebt sie im Hier und Jetzt, mit ihrem Mann und den beiden Söhnen.

Evelyne Leu geht kurz ins Haus und kommt mit der Goldmedaille von Turin zurück in den Garten. «Oh, Gold», ruft Nevin und rennt ihr entgegen. «Ich will auch eine Medaille.» Evelyne Leu lächelt. «Unsere Kinder fragen schon ab und zu, ob ich wirklich die Beste der ganzen Welt war.» Nevins Finger greifen zur Medaille. «Ich kaufe sie dir ab, für fünf Rappen.»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote