«Je steiler, desto geiler»

  23.02.2021 Sport

Serie «Freiämter Olympioniken»: Werner Mattle aus Zufikon – Olympia 1972 in Sapporo

Werner Mattle gewann an den Olympischen Winterspielen 1972 in Sapporo die Bronzemedaille im Riesenslalom. Zum Erfolg verholfen haben ihm seine Ausbildung als Tiefbauzeichner, ein Zahnarzt und Alt-Bundesrat Adolf Ogi.

Josip Lasic

24. Januar 1972: Werner Mattle bestreitet in Adelboden sein erstes Weltcuprennen im Riesenslalom. Er gewinnt und wird für die Olympischen Spiele in Sapporo selektioniert. 10. Februar 1972: Der damals 22-Jährige gewinnt in Japan die Bronzemedaille im Riesenslalom. Dieser Wettkampf wird damals auch als Weltmeisterschaft gewertet. Mattle gewinnt dadurch auch die WM-Bronzemedaille.

In weniger als einem Monat wird der in Arosa aufgewachsene Athlet vom Neuling, der noch keinen Weltcup bestritten hat, zum Olympia- und WM-Medaillen-Gewinner. War er ein Spätzünder? Ein Talent, das dem Schweizer Ski-Verband nicht aufgefallen ist? Wie kam es zu diesem steilen Aufstieg von Werner Mattle?

Seiner Zeit voraus

Zeitsprung in das Jahr 2021. Mittlerweile ist Werner Mattle 71 Jahre alt, pensioniert und lebt in Zufikon. Die Serie «Freiämter Olympioniken» in dieser Zeitung verfolgt er mit Interesse. Der Wintersportler erzählt, wie er kürzlich den Artikel über den Wohler Bobfahrer Max Forster gelesen hat. Dieser nahm ebenfalls 1972 in Sapporo (und 1968 in Grenoble) an den Olympischen Spielen teil. «Interessiert das die Leute überhaupt, was wir damals im letzten Jahrhundert gemacht haben?», fragt er bescheiden. «Sapporo ist ja bald 50 Jahre her. Ist das wirklich noch spannend?» In seiner Bescheidenheit kehrt der Olympionike unter den Teppich, dass er 1972 kein Skifahrer aus dem «letzten Jahrhundert» war, sondern sehr innovativ und seiner Zeit voraus.

Der älteste von vier Brüdern stand zwar sein Leben lang schon auf den Ski, wurde aber erst spät Teil der Nationalmannschaft. 1969 ist er 20 Jahre alt, als er in das alpine Ski-Nationalteam aufgenommen wird. «Mein Ziel war es, einmal an den Olympischen Spielen teilzunehmen. Ich habe die Situation analysiert und mir einen Plan zusammengestellt.» Dieser lässt sich auf drei Punkte aufteilen.

Punkt 1: Analyst statt Tourist

Damals ist die Schweiz eine «Abfahrtsnation». Bernhard Russi, Walter Tresch, René Berthod, Roland Collombin, Michel und Jean-Daniel Dätwyler. «Sie alle waren Abfahrtsfahrer. Also habe ich mich direkt auf Riesenslalom spezialisiert.»

Mattle ist gelernter Tiefbauzeichner und Strassenbauer. Die Erfahrung aus dem Beruf lässt er in die Vorbereitung einfliessen. Das Ergebnis seiner Analyse: «Mit den damaligen Ski, die nicht tailliert waren, musste ich relativ aufrecht fahren. Ich konnte so das Terrain besser überblicken und die Kurven schön ausfahren. Das gab schnell Erfolg.»

Das beste Beispiel ist sein erstes Weltcuprennen in Adelboden. Mattle startet mit der Nummer 39. Während der Italiener Gustav Thöni sich im Ziel schon als Sieger wähnt, nimmt ihm der «Analyst» mit seiner Technik die Butter vom Brot. «Thöni konnte seinen Augen nicht trauen», sagt Mattle mit einem spitzbübischen Lächeln. Er ergänzt, dass seine Technik nicht nur Vorteile hatte. «Auf harten Pisten habe ich den Druck nicht mehr hinbekommen. Da hatte ich meine Probleme.»

Sein Fahrstil hat Mattle auch etwas Spott eingebracht. Kommentator Karl Erb sagte im Fernsehen des Öfteren: «Mattle fährt wie ein Tourist, bringt aber stets gute Zeiten herunter.» Mattle: «Ich habe es einfach geliebt, Dinge zu analysieren und zu vermessen. Das hat mir im Beruf Freude bereitet und ebenso im Sport.»

Punkt 2: Adolf Ogi

Nicht nur Mattle war Fan von Analysen. Er spricht in höchsten Tönen von Alt-Bundesrat Adolf Ogi. Dieser ist 1972 technischer Direktor des Ski-Verbandes. Nachdem die Schweiz 1964 in Innsbruck mit 74 Athleten keine einzige Medaille hat holen können, dreht der Alt-Bundesrat in der Vorbereitung an allen Schrauben, damit der Schweiz ein solches Debakel nicht so schnell wieder passiert. Das Ergebnis sind die «goldenen Tage von Sapporo». Zehn Medaillen holt die Schweiz. Unter anderem dank der akribischen Vorbereitung. 1971 werden alle Strecken und Pisten in Sapporo gemessen und fotografiert. Schneeproben werden entnommen und das Wasser analysiert. «Unglaublich, was Adolf Ogi und sein Team in der Vorbereitung geleistet haben. Ich ziehe den Hut davor», sagt Mattle. Adolf Ogi und Werner Mattle – Brüder im Geiste, wenn es um Analysen in der Vorbereitung auf Sportereignisse geht.

Und Adolf Ogi ist es auch, der 1972 in Adelboden Mattle eine Chance für die Olympiateilnahme gibt. Auf dem offiziellen Weg konnte sich Mattle, der in der B-Mannschaft war, nicht qualifizieren. Vor dem Weltcup in Adelboden sagt Ogi zum Zufiker, zu Heini Hemmi und Hans Zingre: «Wer von euch die beste Zeit holt, fliegt mit nach Sapporo.» Mattle: «Ich glaube, ich hab mit meiner Leistung eine gute Antwort gegeben.»

Punkt 3: Der Zahnarzt, der Sieger formt

Dass der Skisportler mit einem solchen Selbstbewusstsein an den Start ging, hat mit der mentalen Vorbereitung zu tun. Dr. Raymond Abrezol, ein Zahnarzt aus Lausanne, hat sich angeboten, das Schweizer Team mit Mentaltraining zu unterstützen. «Ich war Feuer und Flamme dafür», sagt der Athlet. «Er hat uns erklärt, wie wir unsere Angst mit verschiedenen Übungen kontrollieren können. Zuerst gingen wir am Wochenende zu ihm ins Welschland. Mit der Zeit konnten wir die Übungen auch mit Kassetten machen.»

Abrezol führt mit den Skifahrern autogenes Training durch und eine Technik genannt «Sophrologie», eine dynamische Entspannungstechnik. «Ich fühlte mich mental so stark dadurch. Das war sicher auch ein Vorteil.» Während ein Grossteil der Athleten sich in Sapporo über die steile Piste beschwert, ist Mattles Devise: «Damit macht man sich nur schwächer. Man muss die Dinge so akzeptieren, wie sie sind. Ich habe zu mir gesagt: ‹Das ist jetzt die Olympiastrecke›, und mir den Slogan kreiert ‹Je steiler, desto geiler›.»

Profi in den USA

So wurde dank dem Slogan «Je steiler, desto geiler» auch Mattles Aufstieg steiler – und geiler. Während er zu Olympiazeiten noch Amateur war und neben dem Sport gearbeitet hat, wechselte Werner Mattle von 1975 bis 1981 in den Profi-Sport, den er in den USA betrieben hat. «Da war die erste Frage, ob ich jemals an den Olympischen Spielen war. Und da ich noch eine Medaille geholt habe, hat mir das viele Türen geöffnet.»

Auch während der Zeit in den USA ist der Skifahrer seiner Zeit voraus und zeigt sich sehr innovativ. Er sucht Schweizer Firmen auf, die in den USA Fuss gefasst haben, und fragt sie an, ob sie ihn sponsern. Rivella, Bernina, Rolex, Zermatt, sie alle unterstützen den Bronzemedaillen-Gewinner. Die US-Kommentatoren greifen die Steilvorlage auf und stellen während seiner Rennen Vergleiche auf wie: «Mattle sticht die Piste runter wie eine Schweizer Nähmaschine.» In den Vereinigten Staaten konnte die «Nähmaschine» noch einige Siege feiern und sich Preisgelder sichern.

Japan: «Gutes Essen, aber zu obrigkeitshörig»

Die grösste Enttäuschung für Mattle in den USA war das Essen. «Mein Gott, die waren auf dem Mond. In meinen Augen waren das absolute ‹Siebesieche›. Und dann war das Essen eine so totale Enttäuschung, als ich das erste Mal dort war. Die Ernährung war einer der wenigen Bereiche, auf die ich mich während meiner Karriere selten bewusst konzentriert habe. Nach dem US-Aufenthalt wusste ich aber zumindest, wie man sich nicht ernährt.»

Anders war das während der Olympischen Spiele in Sapporo. Mattle schwärmt vom olympischen Dorf und insbesondere vom Essen. «Es gab Spezialitäten aus der ganzen Welt. Das war grossartig. Wir wurden richtig verwöhnt.» In Japan war hingegen das Sponsoring und Werbung im Allgemeinen ein Problem. So durften Ski und ihre Marken nach dem Rennen nicht in die Kamera gezeigt werden. «Kaum bist du im Ziel, kommen ein paar Japaner und nehmen dir die Ski weg. Als Sportler hast du doch einen gewissen Bezug zu deinen Ski. Das war störend. Die Japaner sind da etwas zu obrigkeitshörig.»

Medaille ist bei Sohn

Heute nimmt ihm die Ski niemand weg. Werner Mattle geniesst es, wenn er Ski fahren gehen kann. Die Medaille hängt mittlerweile bei seinem Sohn zu Hause. «Ich hatte sie nie ausgestellt. Eine Pokalvitrine war nie so meins.»

Dafür hat Werner Mattle spannende Geschichten von seinem steilen Aufstieg auf Lager. Geschichten, die die Menschen auch heute noch interessieren. Ein so steiler Aufstieg eines Sportlers ist spannend. Aber: «Je steiler, desto geiler.»


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