«Es geht immer weiter»
28.07.2020 MuriSommerserie «Starke Frauen»: Paula Loher-Staubli aus Muri
Sie ist ein Murianer Fasnachtsurgestein, Ehefrau, Mutter zweier Söhne, aus dem Murianer Kulturleben nicht mehr wegzudenken und sprüht vor Kreativität. Was auch auf dem Radarbild ihres Lebens erscheint, für Paula Loher-Staubli geht es immer weiter.
Susanne Schild
1966 erblickte Paula Loher-Staubli das Licht der Welt. Als jüngste Tochter der Familie Staubli wuchs sie in Muri im Weiler Hasli mit fünf Schwestern und einem Bruder auf einem Bauernhof auf. Sie ist eine direkte Nachfahrin von Maria Staubli, der «Näppitätsch», ein Murianer Dorforiginal, zu sehen auf dem Bild bei der UBS-Filiale. «Darauf bin ich stolz», meint die 54-Jährige mit einem Schmunzeln im Gesicht. «Die «Näppitätsch» war eine recht schräge Persönlichkeit, vielleicht habe ich einige Gene von ihr bekommen.»
«Irgendwie bin ich auf dem Gemüsefeld gelandet»
Nach der Schule absolvierte Paula Loher-Staubli eine Verkaufslehre. Berufsbegleitend machte sie eine Weiterbildung zur Handelskauffrau. «Im Verkauf habe ich nicht sehr lange gearbeitet. Durch Zufall bin ich auf dem Gemüsefeld gelandet. Die Arbeit beim Gemüsebauern hat mir mehr Spass gemacht als jene im Verkauf.» Als ihr Arbeitgeber ferienhalber abwesend war, musste sie für ihn die Ware nach Zürich zum Engrosmarkt liefern. Dort lernte sie ihren besten Abnehmer kennen, einen Gemüsehändler. «Er warb mich kurzerhand ab.» Von da an machte sie die Bestellungen für Hotels und Kantinen im Keller bereit und brachte die Ware mit einem Lieferwagen zu den Kunden. «Mein Arbeitstag begann morgens um drei und endete um elf Uhr Mittags.» Als ihr Arbeitgeber erfuhr, dass sie eigentlich gelernte Handelskauffrau ist, fragte er sie, ob sie nicht im Büro arbeiten möchte. «Das habe ich dann auch die nächsten zehn Jahre gemacht.» Dann kam die Liebe und 1998 schloss Paula Loher-Staubli den Bund fürs Leben. Zwei Jahre später kam ihr Sohn Maurice zur Welt und 2002 wurde Jeremias geboren.
«Man muss loslassen können»
Sommerserie «Starke Frauen»: Paula Loher-Staubli – eine realistische Optimistin
Die Geschichte ihres Lebens hat Paula Loher-Staubli zu der Persönlichkeit gemacht, die sie heute ist: hartnäckig, ausgelassen und gelassen. Auch in schwierigen Phasen blickt sie nach vorne und gibt nicht auf.
Susanne Schild
Kurz nach der Hochzeit kaufte sie sich zusammen mit ihrem Mann Heinz ein Haus in Muri. «Über anderthalb Jahre, Tag für Tag nach der Arbeit, ohne Urlaub haben wir zwei das Haus mitgestaltet und das, was wir konnten, in Eigenarbeit gemacht.» 2000 bezogen sie das Eigenheim.Im Juli kam Maurice zur Welt. «Ich genoss mein Mamasein in vollen Zügen und war glücklich, als ich zwei Jahre später erfuhr, dass wir wieder einen Sohn bekommen würden.»
Als Jeremias zur Welt kam, war für sie klar, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Es folgten zahlreiche Abklärungen bei verschiedenen Ärzten. «Nach wenigen Monaten stand fest, dass Jeremias mit grosser Wahrscheinlichkeit gewisse Beeinträchtigungen hat. Das Ausmass war indes zu diesem Zeitpunkt nicht abzuschätzen.» Natürlich sei die Nachricht damals hart gewesen. «Es gab immer wieder Phasen, wo alles sehr viel wurde, aber dann folgten wieder Zeiten, in denen es besser lief. Nach dem ersten Schock, es war eben nicht so, wie wir uns das Leben mit einem zweiten Kind vorgestellt hatten, haben mein Mann und ich aber immer versucht, mit Jeremias möglichst viel Normalität zu leben.» Ebenso wichtig war es uns, Maurice, der damals knapp drei Jahre alt war, die ihm zustehende Aufmerksamkeit zu schenken.
«Mit Jeremias ist es einfach anders»
Heute ist Jeremias 17-jährig. Er ist im Rollstuhl, kann nicht sprechen und braucht für alle alltäglichen Dinge des Lebens Unterstützung. Zudem leidet er, je nach körperlicher Verfassung, mehr oder weniger an epileptischen Anfällen.
«Mit Jeremias kann man sehr viel machen, doch es braucht einfach mehr Energie als mit einem gesunden Kind. Alles ist sehr zeitintensiv, einfach anders.» Die Betreuung von Jeremias ist ein 24-Stunden-Vollzeitjob. «Selbst in der Nacht müssen wir mit einem Ohr bei ihm sein, damit wir ihn unterstützen können, wenn er einen epileptischen Anfall hat.» Dennoch fuhr die Familie gemeinsam über einige Jahre in die Skiferien oder machte mit Bus und Zelt am Meer Urlaub. Auch gemeinsame Fasnachtsprojekte standen auf dem Familienplaner. Schwierig sei vor allem, dass sich Jeremias nicht ausdrücken kann. «Wir müssen alles für ihn entscheiden. Er kann nicht sagen, wann er Hunger oder Durst hat oder ob ihm etwas nicht passt. Ich spüre natürlich, wenn es meinem Sohn gut oder wenn es ihm schlecht geht. Ich kenne ihn am besten.»
«Jeremias gehört zu uns»
Neben der Pflege für Jeremias nehmen die administrativen Arbeiten mit den Versicherungen und Behörden viel Zeit in Anspruch. Therapien müssen beantragt werden, der richtige Rollstuhl muss gefunden werden, man müsse sich ständig informieren und sich mit der Bürokratie auseinandersetzen. «Als Jeremias noch klein war, habe ich vieles selbst gebaut. Doch je grösser er wurde, desto schwieriger wurde es.» Dennoch hat sich die Familie mit der Situation extrem gut eingerichtet. «Jeremias gehört zu uns, wir haben uns bestmöglich arrangiert. Wir möchten ihn nicht missen. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, das war immer unsere Devise.» Jeremias ist trotz seiner Krankheit, ein sehr zufriedener Mensch.
Eine grosse Veränderung steht bevor
Drei Jahre besuchte Jeremias die St. Josef-Stiftung in Bremgarten, danach verbrachte er teilintern zehn Jahre in der Institution «Sonnenberg» in Baar. In diesem Sommer steht eine grosse Veränderung an. Jeremias wechselt ins Roth-Haus nach Muri. «Ich hätte mit dem Wechsel lieber noch ein Jahr gewartet, doch durch einen angebotenen Platz in der Institution mussten wir eine Entscheidung fällen. Spätestens nach Ende der Schulzeit hätte Jeremias eine Anschlusslösung gebraucht. Im gleichen Dorf eine so gute Institution wie das Roth-Haus zu haben, ist für uns ein Glücksfall. So ist Jeremias auch an den Tagen, die er nun dort verbringen wird, immer in unserer Nähe. Ich habe so viele Jahre 24 Stunden mit ihm verbracht, mich um ihn gekümmert, jetzt heisst es loslassen. Das ist für jede Mutter schwierig, aber im Fall eines beeinträchtigten Kindes sicher noch eine grössere Herausforderung.» Trotzdem ist sie froh, dass es in Muri eine solche Institution gibt, denn die Unterbringung sei vor allem eine Vertrauensfrage. «Nur wenn es Jeremias gut geht, können wir den Moment geniessen. Auch in Zukunft wird Jeremias gewisse Wochentage zu Hause verbringen.»
Zum Abschluss schenkte seine Schule in Baar Jeremias ein Buch über die Zeit mit ihm. Darin ist zu lesen, wie sie Jeremias beschreiben: «Hetze mich bitte nicht, sondern gib mir etwas Zeit. Ich bin schon zufrieden, wenn Du nur halb so geduldig mit mir bist wie ich mit dir.» «Das trifft meinen Sohn genau», lächelt Paula Loher-Staubli. Der Wechsel ins Roth-Haus wird auch das Leben von Paula Loher-Staubli verändern. Ab diesem Sommer muss nicht nur Jeremias seinen Alltag neu leben, auch sie ist gefordert. «Ich habe in erster Linie mehr Zeit für mich.» Was genau Paula Loher-Staubli mit ihrer neu gewonnenen Freizeit anfangen will, kann sie noch nicht konkret sagen. «Vielleicht lerne ich ja noch mal einen neuen Beruf.»
«Laufen befreit»
«Ich wollte eigentlich immer wieder ins Arbeitsleben zurückkehren», räumt Paula Loher-Staubli ein. Aber die vielen Termine mit Jeremias, die intensive Betreuung während den Ferien, den Wochenenden und all den Feiertagen haben das Ganze sehr erschwert.
Im Herbst 2015 war die Familie durch einen weiteren Schicksalsschlag stark gefordert. «Unser Sohn Maurice erkrankte und es folgten drei schwere Jahre. Heute ist Maurice gesund und wir sind unendlich glücklich darüber.» In ihrer grossen Krise 2016 ist sie, um «den Kopf wieder frei zu bekommen» in zwei Etappen à fünf Tage die Strecke München–Bregenz gelaufen. Ganz alleine. «Diese Erfahrung hat mir in der traurigen Zeit sehr geholfen. Danach ging es mir besser.» Durch das Laufen habe ich auch körperlich meine Ausdauer, mein Durchhaltevermögen und meinen Willen dranzubleiben spüren können.» Die Erfahrungen, die sie auf dem Jakobsweg machen durfte, haben sie geprägt.
Kreative Auszeit
Die 54-Jährige nimmt sich aber auch Zeit, um kreativ zu sein. In ihrer Werkstatt experimentiert sie mit Altholz. Auf ihrer Internetseite «paula. jetzt» sind ihre Werke aus Altholz und Naturprodukten zu sehen. «Die Werkstatt ist ein Ausgleich für mich, so etwas wie Meditation. Trotz des Lärms, den meine Arbeiten manchmal verursachen, kann ich darin total versinken.» Sie inspiriert es, aus Altem Neues zu erschaffen.
Daneben ist Paula Loher-Staubli ein echtes Murianer Fasnachtsurgestein. «Mein Vater war ein Adelburger. Schon von Kind an war ich mit an der Fasnacht. Nicht nur aus der Murianer Fasnacht, sondern auch aus dem kulturellen Leben in Muri ist Paula Loher-Staubli nur mehr schwer wegzudenken.
Daneben noch Zeit, sich ehrenamtlich zu engagieren
1990 bis 1993 organisierte sie das Open Air im Guggibad mit. «Katharina Galizia und ich hatten die gesamte Küchenorganisation unter uns.» Beim Open Air im Senten fuhr sie den Shuttlebus. «Ich habe das geliebt. Meine Vierstundenschicht habe ich zu einer Zehnstundenschicht gemacht.»
20 Jahre, von 1992 bis 2012, war sie im Filmclub Muri engagiert. Im Filmclub hat sie 2005 den Anstoss gegeben für die Open-Air-Konzertreihe, die ab 2008 Muri Nights genannt wurde. 2010 rief sie zusammen mit ihrem Mann und Markus Bohrer das Eisfeld im Klosterhof ins Leben. 2012 folgte dann «Muri bewegt», ein Filmprojekt zusammen mit Roman Sticher. «Den Bauwagen haben wir vier Monate restauriert, bis er für das Filmprojekt bereit war. Es war eine sehr schöne Zeit mit Roman. Von ihm durfte ich viel lernen, was Restauration anbelangt.» Aktuell ist sie in der Muri-Kultur-Theater-Kommission. Dort teilt sie sich die Produktionsleitung bei der Inszenierung «Amerika» mit Nicole Laubacher. «Bei all meinen ehrenamtlichen Tätigkeiten kam mir immer meine Kreativität, mein Organisationstalent, meine Vielseitigkeit und Ausgeflipptheit zugute.»
Die Geschichte mit ihrer Familie hat Paula Loher-Staubli verändert und zu der starken Frau gemacht, die sie heute ist. Sie selbst beschreibt sich als kritisch und hartnäckig. Eine harsche, kaffeesüchtige Spätaufsteherin, und dann noch morgenmuffelig. Aber auch ausgelassen und gelassen. Paula Loher-Staubli, eine realistische Optimistin, die gelernt hat, auch in schwierigen Situationen den Weg weiterzugehen.