An den abgelegensten Orten
12.07.2024 MuriIn einer ganz anderen Welt
Die Murianer Hausärztin Verena Gantner reist seit über zehn Jahren nach Tadschikistan
Die medizinische Grundversorgung stärken. Das ist das Ziel. Darum war Verena Gantner kürzlich wieder in ...
In einer ganz anderen Welt
Die Murianer Hausärztin Verena Gantner reist seit über zehn Jahren nach Tadschikistan
Die medizinische Grundversorgung stärken. Das ist das Ziel. Darum war Verena Gantner kürzlich wieder in Tadschikistan.
Annemarie Keusch
Verena Gantner nimmts vorneweg. «Ich mache das nicht, weil ich ein besonders guter Mensch bin, sondern weil es unglaublich spannend ist.» Dass sie gleichzeitig helfen und Entwicklungen anstossen kann, ist ein positiver Nebeneffekt. Seit dem Zerfall der Sowjetunion gibt es zwischen der Schweiz und Tadschikistan eine Zusammenarbeit, was die Ausbildung von Ärzten betrifft. Die Murianer Hausärztin weiss: «Es gab zu dieser Zeit ganz viele Spezialisten im Land, aber keine Generalisten, die die Grundversorgung sicherstellen konnten.» Vom Schweizer Staat gabs Unterstützung für eine Grundausbildung – und fachliche Begleitung. Lange erfolgte diese durch den Verein «Hausärzte für Tadschikistan», mittlerweile ist man Teil der «Swiss Medical Teams».
2013 reiste Gantner erstmals in das zentralasiatische Land und war seither jedes Jahr ein- bis zweimal da. Von ihrer letzten Reise erzählt sie: «Es ist alles so ganz anders. Darum ist es umso wichtiger, sich auch distanzieren zu können.»
Drei Wochen lang reisten sie und drei weitere Schweizer Hausärzte quer durchs Land. Dass sie selbst auch medizinische Hilfe in Tadschikistan würde in Anspruch nehmen müssen, das hätte Gantner wohl nie gedacht.
Verena Gantner versucht regelmässig, in Tadschikistan ihr medizinisches Wissen weiterzugeben
Es sind ganz andere Umstände, ganz andere Voraussetzungen. Vergleiche mit dem Schweizer Gesundheitssystem will Verena Gantner keine ziehen. Seit 2013 reist sie jedes Jahr nach Tadschikistan mit dem Ziel, die medizinische Grundversorgung zu fördern. «Es geht vorwärts, wenn auch in kleinen Schritten», sagt sie.
Annemarie Keusch
Es sind die Geschichten, die nur schon beim Zuhören wehtun. Jene des neunjährigen Mädchens etwa, in dessen Kleinhirn ein Tumor gewachsen ist. Verena Gantner erzählt es relativ pragmatisch: «Ich habe mich nicht getraut, der Familie zu raten, diese Operation hier vorzunehmen.» Zu heikel. Zu gering die Erfolgsaussichten. Im Herbst reise ein Neurochirurg des «Swiss Medical Teams», zu dem mittlerweile auch der Verein «Hausärzte für Tadschikistan» gehört, in die Region. «Ich hoffe sehr, dass das Mädchen bis dann durchhält», sagt Gantner. Operationstechniken weiterzugeben, es ist eines der Ziele der Einsätze. «Und das gelingt auch, nur dieses konkrete Beispiel wäre viel zu gefährlich.»
Dass das Mädchen sterben könnte, obwohl sie beispielsweise in der Schweiz viel besser und kompetenter behandelt werden könnte. «Ja, manchmal ist das nicht einfach mitanzuschauen. Darum ist es umso wichtiger, zu akzeptieren. Akzeptieren, dass hier vieles anders ist. Und akzeptieren, in welchem Bereich wir helfen können und wo dieser Bereich aufhört.»
Persisch kommt ihr zugute
Jährlich ein- bis zweimal reist Verena Gantner mit einem Team aus Schweizer Hausärzten nach Tadschikistan. Und das seit 2013 – mit einer pandemiebedingten Ausnahme. Die Murianerin erzählt von einer Ausschreibung für Lehrärzte der Universität Zürich. «Sie suchten Hausärzte, die bei diesem Projekt mitmachen.» Zuunterst stand geschrieben, dass man von Vorteil Russisch oder Persisch spreche. «Da war für mich klar, dass ich das machen will.» Reisen gehört zu Gantners grossen Leidenschaften. Auch dafür besuchte sie einst einen Persisch-Kurs. «Die Sprache kommt mir bei den Einsätzen immer zugute», betont sie. Um sich zurechtzufinden, um das Vertrauen der Menschen zu gewinnen, um Organisatorisches zu erledigen.
Seit 2022 leitet Verena Gantner das Projekt mit. «Wir machen vor Ort Sprechstunden, geben unsere Einschätzungen ab, zeigen Alternativen auf.» Etwa zum inflationären Antibiotika-Verbrauch. «Wer in Tadschikistan zum Arzt geht, bekommt primär Antibiotika verschrieben. Dass das gegen einen viralen Infekt oder gegen Rückenschmerzen nicht hilft, wissen nicht alle Ärzte», nennt Verena Gantner ein Beispiel. Hinzu kommen Behandlungsmethoden, die auch kulturell bedingt ganz anders sind. «Die Ärztinnen und Ärzte fassen die Patienten kaum an, stellen nur wenige Fragen. Wir wollen zeigen, dass es auch anders geht und dass dies überhaupt nicht verwerflich ist.»
Kulinarische Eigenheiten
Wenige Wochen sind vergangen, seit Gantner von ihrer letzten Reise nach Tadschikistan zurückgekehrt ist. Drei bis vier Ärztinnen und Ärzte besuchte sie jeweils für ein paar Tage – quer im Land verteilt. «An den abgelegensten Orten ist es dabei oft am interessantesten.» Was die Natur betrifft, was die Menschen betrifft, aber auch, was die Medizin betrifft. «Niemand kommt so nahe an Leute heran wie Ärzte», sagt Gantner. Sie erlebte dabei nicht nur den Alltag in Praxen, sondern auch auf Hausbesuchen. «Es gibt Dörfer, da stehen die Leute lange an, wenn einmal ein Arzt vorbei kommt.» Dass dabei jeweils nur eine Person im Besprechungszimmer sitzt und die anderen draussen warten, ist eine der Entwicklungen, die die Schweizer Hausärzte in den letzten Jahren anstiessen.
In all den Reisen nach Tadschikistan versucht Verena Gantner aber nicht nur, die medizinische Grundversorgung zu stärken und vorwärtszubringen. Sie hat auch viel über das Land gelernt. Das ländliche Pamir-Gebirge zum Beispiel. «Dort wachsen auf 3000 Metern Höhe die weltbesten Mirabellen», schwärmt sie. Doch kulinarisch kann sie nicht nur Gutes berichten. «Dass sie Rhabarber roh essen, werde ich wohl nie richtig verstehen.» Und auch die Schurbo-Suppe sei nicht immer gleich gut. «Das Fleisch darin ist nicht immer von jungen, zarten Hammeln.»
Als Schwiegermutter ausgesorgt
Verena Gantner hat Tadschikistan in all den Jahren lieben gelernt. «Die Tadschiken sind die herzlichsten Leute, dermassen gastfreundlich», erzählt sie. Und trotzdem, vieles ist aus westlicher Sicht schwer zu verstehen. Etwa, dass Bussen drohen, wenn in der Praxis kein Bild des Präsidenten aufgehängt ist. Oder dass Frauen oft mit ihren Schwiegermüttern zum Arzt gehen. «Alleine dürfen sie nicht.» Gantner erzählt von einer Kultur, in der die Schwiegermütter eine zentrale Rolle haben. «Darum ist es auch das Ziel aller Frauen, Schwiegermutter zu werden. Dann haben sie ausgesorgt, ihre Schwiegertochter ist für alles verantwortlich, muss alles machen.» Gleichzeitig berichtet sie von Grossfamilien, die das Gerüst der Gesellschaft bilden. «Heime gibt es nicht, weder für Alte noch für Menschen mit Beeinträchtigung. Sie werden zu Hause gepflegt und umsorgt.»
Apropos Pflege – solche hatte Gantner während ihres letzten Aufenthalts in Tadschikistan selber nötig. Es passierte am Montag der zweiten Woche. Auf dem Heimweg von einem türkischen Restaurant zurück in die Wohnung in der Stadt Kulob. «Ich stürzte, das Wadenbein war mittig gebrochen», erzählt die Hausärztin. Deswegen zurück in die Schweiz reisen? Sie lacht. «Sicher nicht, ich habe Krücken organisiert und nach einem Tag ging die Arbeit weiter.» Von den verordneten Medikamenten nahm sie nicht alle. «Nur das Notwendige, und das nur, solange nötig.» Einen Gips wollte sie nicht. Bandagen und Stützstrümpfe reichten, schliesslich seien die Knochenteile nicht verschoben worden. «Mittlerweile ist alles wieder fast gut», sagt sie und lacht.
Wie Walliserdeutsch
Auch in dieser Situation kam es Verena Gantner zugute, dass sie persisch spricht. «Auch wenn wir im Alltag trotzdem immer mit Übersetzern unterwegs waren. Gerade auf dem Land sprechen fast alle Tadschikisch, ein Dialekt des Persischen, ähnlich wie bei uns das Walliserdeutsch», erklärt sie.
Der Einsatz von Verena Gantner und anderen Schweizer Hausärzten versucht also, an ganz vielen Fronten kleine Schritte vorwärtszumachen. Im Herbst reist die Murianerin nicht erneut nach Zentralasien. «Aber ich plane, nächstes Jahr wieder zu gehen», sagt sie.