Anderen helfen, die Sonne zu sehen
24.05.2024 Region OberfreiamtZurück ins Leben gekämpft
Mit Anfang 30 entging Nisha Fähndrich nur knapp dem Tod – nun möchte sie anderen helfen
Nisha Fähndrich starb beinahe an einem multiplen Organversagen. Noch heute leidet sie an den ...
Zurück ins Leben gekämpft
Mit Anfang 30 entging Nisha Fähndrich nur knapp dem Tod – nun möchte sie anderen helfen
Nisha Fähndrich starb beinahe an einem multiplen Organversagen. Noch heute leidet sie an den Folgeschäden.
Celeste Blanc
33 Jahre, Mutter einer fünfjährigen Tochter, Informatiklehrerin: 2014 befindet sich Nisha Fähndrich in der Blüte ihres Lebens. Sie geniesst eine harmonische Familie, einen guten Job, Freundschaften, eine beschwerdefreie Gesundheit. Doch dann – von einem Moment auf den nächsten – ist plötzlich nichts mehr so, wie es war.
Zuerst drohte der Waltenschwilerin ein Leberversagen. Wie durch ein Wunder heilt sich dieses aber von alleine. Nur einen Monat später folgt der nächste Schicksalsschlag: Wegen einer Sepsis steht die junge Frau vor einem multiplen Organversagen. Die Ärzte rechnen mit dem Schlimmsten. Doch sie überlebt erneut.
Glücklicher als so mancher
Spurlos ist das Erlebte an Fähndrich nicht vorbeigegangen. Eine Nahtoderfahrung, die Angst vor dem Sterben, die Panik vor dem Verlust – das Erlebte hat nicht nur Schäden am Gehirn, sondern auch an ihrer Psyche hinterlassen. Doch Nisha Fähndrich gibt nicht auf. Sie kämpft sich zurück ins Leben. Lernt, trotz der Einschränkungen den Alltag zu meistern. «Und heute bin ich vermutlich glücklicher als so manche andere Person.» Mit ihrer Geschichte möchte sie nun anderen helfen.
Nisha und Peter Fähndrich haben eine Selbsthilfegruppe mit Schwerpunkt Tod und schwere Erkrankung gegründet
Vor zehn Jahren war Nisha Fähndrich dem Tod geweiht. Wie durch ein Wunder hat sie das drohende multiple Organversagen überlebt – und gelernt, mit den Einschränkungen zu leben. «Ich habe mich entschieden, mein Leben positiv zu gestalten», so die 43-Jährige. Deshalb möchten sie und ihr Mann Peter nun Menschen mit ähnlichen Erfahrungen unterstützen.
Celeste Blanc
«Wenn man knapp dem Tod entgeht, sieht man das Leben mit anderen Augen.» Nisha Fähndrichs Blick schweift über die Bünz, die unter ihr durchfliesst. Hier, auf der Brücke beim renaturierten Abschnitt zwischen Waltenschwil und Wohlen, ist der Lieblingsplatz von ihr und Ehemann Peter. Keine Hektik, kein ständiges Vergleichen, kein Missmut – seit dem Schicksalsschlag der Familie im Dezember 2014 hat sich der Fokus komplett geändert. Nun stehen die kleinen Momente im Vordergrund. «Sie sind für uns die grossen Schätze.»
Am Leben zu sein – für die 43-jährige Waltenschwilerin ist dies alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Aufgrund eines akuten Leberversagens hing ihr Leben vor zehn Jahren am seidenen Faden. Wie durch ein Wunder hat sich Fähndrich erholt – doch dies sollte nur der Anfang einer beschwerlichen Reise sein, die nicht nur körperlich, sondern auch seelisch ihre Spuren hinterlassen hat.
Mitte 30 ändert sich das Leben für immer
Das Ehepaar Fähndrich setzt sich auf eine Bank und blickt in die Felder. Die Sonne scheint, es ist warm an diesem wolkenlosen Frühlingstag. «Noch immer bin ich beeindruckt, wie sie sich ins Leben zurückgekämpft hat», meint Ehemann Peter und nimmt die Hand seiner Frau in seine. Seit 25 Jahren sind die beiden ein Paar, 15 davon verheiratet. Kennengelernt haben sie sich in Wohlen im «Pier 68», dem späteren «Don Paco». Sie war damals 18 Jahre alt, er 20. «Ich war gerade volljährig geworden und das allererste Mal überhaupt im Ausgang. Peter war mein erster Flirt», erzählt sie. «Wir haben die ganze Nacht geredet. Dass ich so meinen Zukünftigen kennenlerne, damit hatte ich nicht gerechnet.»
Auch nicht damit gerechnet hatte Nisha Fähndrich, Mitte 30 ihr Leben praktisch nochmals bei null zu beginnen. Mit einer fünfjährigen Tochter und einer Stelle als IT-Lehrerin wurde sie plötzlich aus ihrem Alltag gerissen. «Es ging alles so schnell. Von einem Tag auf den andern hat sich alles verändert, das hat mir eine solche Angst gemacht.»
Nicht nur, dass Fähndrich mit dem Schock eines akuten Leberversagens zurechtkommen musste. Auch drohte kurz darauf bereits der nächste Schicksalsschlag: Nur einen Monat später lag Nisha Fähndrich erneut im Notfall, diesmal wegen einer Sepsis, verursacht durch einen Darmdurchbruch. Ihr drohte multiples Organversagen. Die Ärzte rechneten mit dem Schlimmsten. «Ich war bis dahin noch nie krank gewesen», erzählt Nisha Fähndrich. «Und auf plötzlich sollte ich sterben? Noch nie habe ich in meinem Leben solche Angst und Panik gespürt.»
Nahtoderfahrung bringt Erkenntnis
Bei der Notoperation im Januar 2015 musste Fähndrich der komplette Dickdarm entfernt und durch ein Stoma ersetzt werden. Danach liegt die junge Frau mehrere Wochen im Koma. An die Zeit auf der Intensivstation erinnert sie sich nicht – in ihr Gedächtnis eingebrannt hingegen hat sich eine lebensweisende Nahtoderfahrung, welche die Waltenschwilerin durchlebte: Die in Nesselnbach bei einer Adoptivfamilie aufgewachsene Nisha Fähndrich tritt zum ersten Mal mit ihrer leiblichen Mutter in Kontakt. «Es war keine Begegnung im eigentlichen Sinn. Wir haben nicht miteinander gesprochen», erzählt sie. «Hauptsächlich war es ein warmes, wohlwollendes Gefühl, eine Leichtigkeit, eine Verbundenheit, die ich so noch nie gespürt hatte.» Fähndrich ist es wichtig zu betonen, dass «ihre eigentlichen Eltern», die sie aufgezogen haben und die sie liebt, immer bei ihr gewesen seien. Doch das Erlebte, es ist hängengeblieben. Den seither weiss Fähndrich ganz genau, was ihre Bestimmung in ihrem Leben ist: «Ich musste für meine Tochter Melina zurückkehren. Ich wusste, dass ich für sie leben will.»
Unauffällige Folgeschäden
Auch wenn die junge Frau von einem überwältigenden Moment berichtet, fällt es ihr noch immer nicht leicht, mit anderen Menschen darüber zu sprechen. Dasselbe gilt für den Tod, auch wenn sie und ihre Familie ihn als Teil des Lebens akzeptiert haben. Dies ist vor allem den Reaktionen geschuldet, mit denen sich die Fähndrichs nach Nishas Spitalaufenthalt und der darauffolgenden Ärzte- und Spital-Odyssee konfrontiert sahen. «In unserer Gesellschaft ist der Tod ein Tabuthema. Die Menschen reagierten mir gegenüber teilweise komisch, distanziert und wussten oftmals nicht, wie sich zu verhalten», erzählt sie. Das habe sich vor allem am Anfang isolierend angefühlt.
Und auch Ehemann Peter hat diese Erfahrung gemacht: «Manchmal fühlte es sich tatsächlich so an, als wäre man von der Gesellschaft ausgestossen.» Auch, weil seine Frau aufgrund der Folgeschäden nicht mehr die Leistung bringen kann wie davor. Denn was man Nisha Fähndrich nicht ansieht: Nach dem Koma musste sie vieles, etwa das Gehen, das Essen oder rudimentäre kognitive Fähigkeiten, erst wieder erlernen. Zudem ist seither ihr Kurzzeitgedächtnis stark eingeschränkt, sie leidet an einer starken, andauernden Erschöpfung und braucht für die Bewältigung ihres Alltags viel Erholung. «Ich hatte lange, um zu akzeptieren, dass ich nicht mehr so vital bin wie früher. Das hat mir zu schaffen gemacht», gesteht Nisha Fähndrich.
Zu akzeptieren, fällt schwer
Dass in der heutigen leistungsorientierten Gesellschaft oft die Akzeptanz für das Kranksein fehle, es beschäftigt das Ehepaar stark. Geprägt von ihren Erfahrungen kritisiert Nisha Fähndrich: «Trotz aller Aufklärung hält sich nach wie vor hartnäckig das Vorurteil, dass wenn man krank, man gleichzeitig auch faul ist.» Das Kranksein zu verteufeln, das habe negative Auswirkungen auf Betroffene. Und sei alles andere als vorausschauend. «Schliesslich kann jeden und jede von heute auf morgen das gleiche Schicksal ereilen.»
Auch die Betroffene selbst musste zunächst lernen, sich die Veränderung einzugestehen. Aufgrund der Folgeschäden auf IV angewiesen, hatte sie selbst zu Beginn Mühe, «kein produktives Mitglied der Gesellschaft» mehr zu sein. «Diese Einstellung loszulassen und meinen Frieden zu finden, war herausfordernd», erklärt sie. «Doch das Leben besteht aus so viel mehr als aus Arbeit.»
Gezielte Methoden helfen
Dank der Geduld und der starken Unterstützung von Ehemann Peter hat Nisha Fähndrich die schwere Zeit gemeistert. Er war es auch, der durch kreative Ideen den Alltag seiner Frau erleichtert hat. So sind in der Küche verschiedene Wochenplaner platziert, die Peter Fähndrich, der beruflich als Erwachsenenbildner und Flipchart-Coach tätig ist, für sie entworfen hat. «Dank diesen Hilfen ist es mir möglich, meinen Alltag gut zu meistern. Und das ist für mich ein sehr grosser und wichtiger Schritt», meint die 43-Jährige.
Beim Spaziergang zurück zur Wohnung blicken Peter und Nisha Fähndrich noch einmal auf die Bünz. Das Erlebte ist für den Ehemann nach wie vor ein Trauma, das er bis heute noch nicht überwunden hat. Wenn er über Vergangenes spricht, bricht ihm oft die Stimme weg. «Alles gut», meint er dann. «Ich muss mich in diesen Momenten besinnen, dass wir heute hier sind. Und heute auch alles wieder gut ist.» So habe nicht nur Ehefrau Nisha ihre Methoden, durch den Alltag zu kommen, sondern eben auch er.
Die ansteckende Zuversicht soll nun weitergegeben werden
Der Beinahe-Tod von Mutter Nisha hat in der Familie Fähndrich viel Leid und Schmerz hinterlassen. Dennoch erklärt sie: «Ich liebe unser Leben. Und auch wenn gewisse Dinge verloren gegangen sind, so hat doch alles seine guten Seiten: Ich habe dadurch viel mehr Zeit mit meiner Tochter gewonnen.»
Es ist eine Zuversicht, die ansteckt, wenn man mit Nisha Fähndrich spricht. Eine Art, die es einem erlaubt, daran zu glauben, dass man trotz Schicksalsschlägen immer in der Lage ist, das Maximum aus dem Leben herauszuholen. «Ich habe mich dafür entschieden, mein Leben positiv zu gestalten und nicht von anderen Vorstellungen bestimmen zu lassen. Das Wichtigste ist, für sich im Leben etwas zu finden, das einen bereichert.» Mit dieser Haltung möchten sie auch Vorbild für ihre Tochter Melina sein.
Einen Lebenssinn für sich hat das Ehepaar Fähndrich in ihrem gemeinsamen Projekt gefunden: Ab dieser Woche führen die beiden eine Selbsthilfegruppe für Angehörige und Betroffene von Menschen, die sich aufgrund einer schweren Krankheit oder eines sonstigen Schicksalsschlages mit dem Thema Tod auseinandersetzen mussten. «Wenn Menschen mit dem Ableben konfrontiert waren, ist es so wichtig, dass sie sich an Personen wenden können, welche die gleichen Sorgen, administrativen Fragen und seelischen Probleme haben», so Peter Fähndrich. Denn auch für das Ehepaar selbst ist ein solcher Austausch gewinnbringend. «Mit jedem Gespräch, das ich führe, heile ich mehr und kann meine Geschichte besser akzeptieren.»
Mit seiner Selbsthilfegruppe möchte das Ehepaar seine schlechten Erfahrungen zu etwas Positivem wandeln. Und dazu beitragen, dass auch anderen Menschen trotz einschneidender Erlebnisse und Schicksalsschläge eines Tages möglich ist, wieder die Sonne zu sehen. So wie Nisha und Peter Fähndrich an diesem Nachmittag, an ihrem Lieblingsort an der Bünz.
Informationen zur Selbsthilfegruppe sowie Kontaktdaten unter: www.selbsthilfe-freiamt.ch.