Ankommen und Struktur finden
09.12.2022 Villmergen, Region UnterfreiamtBesuch in der Villmerger Unterkunft für unbegleitete minderjährige Asylbewerber (UMA)
Seit dem Sommer besteht die neue Unterkunft für unbegleitete minderjährige Asylbewerber in Villmergen. Rund 50 geflüchtete Jugendliche im Alter von 14 bis 18 ...
Besuch in der Villmerger Unterkunft für unbegleitete minderjährige Asylbewerber (UMA)
Seit dem Sommer besteht die neue Unterkunft für unbegleitete minderjährige Asylbewerber in Villmergen. Rund 50 geflüchtete Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren finden dort eine altersgerechte Unterbringung, in der sie sozialpädagogisch auf ihrem Lebensweg begleitet werden.
Seitdem die Taliban in Afghanistan vor über einem Jahr wieder an die Macht gekommen sind, ist das Leben für viele Menschen dort noch unerträglicher und gefährlicher geworden. Aus diesem Grund flüchten sie dorthin, wo es eine Perspektive geben und es ihnen besser gehen könnte – darunter sind Kinder und Jugendliche. «Vor allem für die jungen Menschen werden die Fluchtwege immer länger und gefährlicher» sagt Ute Fritzsch. Sie leitet eine der Unterkünfte für unbegleitete minderjährige Asylbewerber (UMA) des Kantons Aargau.
Zurzeit kommen vorrangig afghanische Kinder und Jugendliche im Kanton an – davon sind rund 20 Prozent unter 16 Jahre alt. In Villmergen sind Jungs untergebracht. Geflüchtete Mädchen oder junge Frauen finden an einem anderen Standort ein neues Zuhause. «Die meisten Kinder und Jugendlichen, die bei uns ankommen, haben schlimme Dinge auf dem Weg hierher erlebt. Sie sind auf ihrem Fluchtweg Opfer brutaler, oft auch sexueller Gewalt geworden.»
Das Fallbeispiel von Karim
Zum Schutz der Kinder und Jugendlichen werden an dieser Stelle keine Bilder gezeigt oder Namen genannt. Damit nachvollziehbar ist, wie die Ankunft vor sich geht und was das Leben hier für einen Flüchtling aus Afghanistan bedeutet, wird eine erfundene Geschichte über einen Jungen erzählt, den wir Karim nennen. Die Geschichte mag fiktiv sein, sie könnte aber genau so passiert sein.
Karim ist 15 Jahre alt und kommt aus einem Ort aus der Nähe von Kabul. Mit 15 ist man eigentlich noch ein Kind, das Fürsorge, eine Familie, ein sicheres Umfeld sowie einen strukturierten Tagesablauf, aber vor allem Liebe, Zuwendung und Wärme benötigt. «Wir können die Familie nicht ersetzen, aber wir bieten Struktur, Fürsorge und auch etwas menschliche Wärme, damit sich Karim zurechtfinden kann», erklärt Ute Fritzsch. Warum kommt Karim nach Villmergen? Da er mit seinen 15Jahren noch nicht erwachsen ist, gilt er laut Gesetz als unbegleiteter minderjähriger Asylbewerber (UMA) und wird wie alle Kinder beziehungsweise Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren einer entsprechenden Unterkunft zugewiesen. Derzeit gibt es rund 180 Kinder und Jugendliche in den UMA-Unterkünften in Aarau, Unterentfelden und Villmergen. Überschreiten sie das 18. Lebensjahr, müssen sie die Asylunterkunft verlassen und wechseln in eine Unterkunft für Erwachsene in einer Gemeinde des Kantons.
Warmherziger Empfang
«Der Bund weist alle Flüchtlinge nach einem Verteilschlüssel den Kantonen zu – von Aarau bekommen wir kurzfristig einen Anruf», berichtet Fritzsch. «Danach muss es schnell gehen. Wir fahren nach Aarau und holen Karim dort ab.» Da Fritzsch keine der afghanischen Sprachen wie Persisch, Farsi, Dari oder Paschtu spricht, nimmt sie das frühere Flüchtlingskind Hamid mit. «Hamid ist zwischenzeitlich erwachsen und hilft uns bei der Betreuung. Er fängt Karim allein schon dadurch auf, dass er ihn in seiner Landessprache anspricht und selbst weiss, was dieser durchlebt hat. Hamid erklärt ihm dann, dass er ihn nach Villmergen zu anderen Kindern und Jugendlichen bringt», erzählt Fritzsch. «Wir wissen von Berichten anderer Flüchtlingskinder, was sie auf dem Weg, bis sie in die Schweiz angekommen sind, erlebt haben. Sie sind voller Angst, Misstrauen und Zweifel, da ist dieser warme Empfang sehr wichtig.»
In der Unterkunft in Villmergen wartet auf Karim ein Bett in einem Zwei-Personen-Zimmer. Um den Raum etwas wohnlich zu gestalten, ist es mit bunt gemusterter Bettwäsche und einem Stofftier hergerichtet. «Aufgrund einer Stofftierspende wählen wir für jedes Kind eins aus und legen es vor seiner Ankunft auf sein Bett. Manche Kinder fühlen sich dafür schon zu gross, aber ganz heimlich freuen sie sich alle darüber. Die Stofftiere geben Trost und helfen oft beim Heimweh sowie beim Verarbeiten der schlimmen Erfahrungen», ergänzt Fritzsch.
Nachdem Karim in der UMA-Asylunterkunft aufgenommen wurde, legt ein Integrations- und Bildungsplan für ihn fest, was er alles in den nächsten Wochen und Monaten lernen darf, um sich in der Schweiz und in seinem neuen Leben zurechtzufinden. «Das Wichtigste ist, dass sie die Sprache lernen, was den jungen Menschen erstaunlich schnell gelingt», erklärt Günter Marz. Er ist Fachbereichsleiter der UMA, Sektion Betreuung, im Departement Gesundheit und Soziales im Kanton Aargau.
Emotionen schnell abfangen
Da Karim mit 15 Jahren schulpflichtig ist, geht er nach dem Frühstück in die kantonale Schule und kommt erst gegen Spätnachmittag wieder zurück. «Ab zirka 16Uhr wird das Haus voll mit den Kindern und Jugendlichen. Und wie es bei jungen Heranwachsenden ist, haben sie einen grossen Redebedarf», lacht Ute Fritzsch und erzählt weiter: «Da wir Betreuenden die Ersatz-Mama oder der Ersatz-Papa sind, dürfen wir uns alles anhören, was die Kids erlebt haben oder was sie beschäftigt.»
Durch ihre traumatischen Erfahrungen und das schmerzvolle Heimweh ist das Nervengerüst der Kinder manchmal sehr dünn und fragil. «Wir merken es, wenn unsere Jungs laut oder leise werden. Laut werden sie meistens wegen kleineren Belangen – da reicht es, beim Fussballspiel gefoult zu werden. Dann kommen Reaktionen, die nicht ignoriert werden dürfen. Wir greifen den Konflikt auf und deeskalieren zusammen mit den Streithähnen. Wird ein Kind ‹leise›, meist bleich im Gesicht, zurückgezogen oder leidet unter Schlafstörungen, sind wir genauso schnell zur Stelle. Viele wollen sich nur noch zurückziehen. Da helfen dann unsere Betreuer und Psychologen. Grundsätzlich ist es in unseren Unterkünften aber gewaltfrei und friedvoll», erklärt Günter Marz.
Verständnis für Kultur schaffen
Nach der Schule hat Karim Freizeit. Wie andere Kinder macht er Hausaufgaben, liest, hört Musik, spielt Fussball oder hilft seinem Zimmerkollegen beim Lernen. Es gibt auch Angebote zum gemeinsamen Kochen, Handwerken oder Musizieren. Aber auch Zimmer-Aufräumen und Putzarbeiten stehen auf seiner Aufgabenliste. Besonders wichtig sind Anrufe in die Heimat. Manchmal klappt es sogar mit einem Videoanruf und die Freude ist gross, einen oder mehrere Familienangehörige über diesen Weg wiederzusehen. Hat jemand Geburtstag, wird ein Kuchen gebacken und gemeinsam gefeiert. Schweizer Traditionen, Kulturen und Feiertage, wie der Schweizer Nationalfeiertag am 1. August, werden den Kindern und Jugendlichen erklärt und gemeinsam zelebriert. «Jetzt zu Weihnachten haben wir unseren Jungs gezeigt, was dieses christliche Fest in der Schweiz bedeutet und warum dazu die Häuser geschmückt, Weihnachtsgebäck gebacken und Geschenke gemacht werden. Wir haben dann zusammen kurzerhand auch einen kleinen Weihnachtsbaum geschmückt und Papiersterne fürs Fenster gebastelt», erzählt Ute Fritzsch.
Wichtiger Bestandteil der Unterkunft ist es aber auch, sich ins Gemeindeleben zu integrieren. Die Kinder lernen, dass man sich auf der Strasse grüsst und bei der Dorf-Waldputzete mithilft. Für 2023 planen sie, gemeinsam ein Adventsfenster anzumelden. Während des Gesprächs mit Fritzsch und Marz ist die Zimmertür geöffnet und immer wieder streckt ein Jugendlicher, der gerade von der Schule kommt, neugierig den Kopf ins Zimmer. Es ist so, wie wenn die Eltern zu Hause Besuch haben. Sie lächeln neugierig, grüssen freundlich und wollen einfach kurz hören, ob es allen gut geht, oder erzählen schnell, was sie heute erlebt haben.
Träume aller Jugendlichen gleich
Was wünschen und erwarten die Kinder vom Leben in der Schweiz? «Die Jugendlichen haben die gleichen Wünsche wie Schweizer Jugendlichen. Sie wollen einen guten Schulabschluss erreichen und einen Beruf lernen, der ihnen Spass macht. Sie träumen von einem friedvollen Leben mit eigener Familie in Bedingungen, die sorgenfrei sind.» Karim ist erst 15 Jahre alt. Was aus ihm wird, wird sich zeigen. Bis er 18 Jahre alt ist, darf er in Villmergen bleiben.
«Mit Villmergen betreue ich nun schon die 4. Asylunterkunft», erzählt Fritzsch. «Ich habe viele Flüchtlingskinder kennengelernt. Alle sind grossartige Jungs und ich bin stolz, wie eine Mama zu sehen, wie sie ihren Weg meistern. Es ist kein leichter Weg und es tut weh, sie dann mit 18 allein in ihr Leben zu schicken.»
Zum Abschied soll es wie beim einstigen Empfang genauso warmherzig zugehen: Es gibt ein kleines Büchlein mit Fotos aus der Zeit in der Asylunterkunft – eine Erinnerung und ein wichtiger Halt fürs weitere Leben. «Manchmal besuchen sie uns später. Dann stehen erwachsene Männer strahlend vor mir und fragen, ob ich sie noch kenne, und erzählen, dass sie es geschafft haben. Das ist ein wunderbarer Moment für mich und für unser ganzes Team», sagt Ute Fritzsch mit einem sanften Lächeln. --mub
Ehemalige Flüchtlinge wichtige Vorbilder
Die UMA-Asylunterkunft in Villmergen ist seit Sommer 2022 in Betrieb
In der Asylunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge sind in Villmergen rund 20Sozialpädagogen, Betreuer, Psychologen in der Frühund Spätschicht im Einsatz.
«Seit 2015 beobachten und bewerten wir die Flüchtlingssituation. 2022 war das bisher anspruchsvollste Betreuungsjahr für unsere Teams», erklärt Günter Marz. «Viele Flüchtlingskinder kommen wirklich unter schlimmen Umständen hier in der Schweiz an. Fachpersonen unterstützen dann die Teams in den Unterkünften. Bewundernswert ist es, dass die Kinder und Jugendlichen trotz all dem Erlebten über ein grosses Resilienzpotenzial, verbunden mit einem enormen Selbstantrieb und Engagement, verfügen. Das hilft ihnen sehr auf ihren weiteren Wegen.» Im Team sind auch fünf Betreuer, die einst selbst Flüchtlinge gewesen sind und sich erfolgreich in der Schweiz integriert haben. Sie sprechen nicht nur die Landessprachen der Kinder, sondern tragen die eigene Fluchterfahrung in sich. Zwei dieser Betreuer sind Hamid und Hüseyin. Bei der Betreuung von gef lüchteten Jugendlichen sind sie wichtige Ansprechpartner und Vorbilder. Es geht ihnen nicht nur darum, bei der Integration zu helfen und am Anfang sprachlich zu übersetzen, sondern Vertrauen zum neuen Zuhause zu schaffen und den jungen Menschen Zuversicht zu geben.
Im Flur hängt eine Weltkarte. «Manchmal stehen wir mit den Kindern davor und schauen, woher sie kommen», erzählt Hüseyin. «Afghanistan liegt über 6000 Kilometer von hier entfernt. Dort gibt es Berge, wie hier in der Schweiz. Früher konnte man dort auch Ski fahren.» Ob das die Taliban überhaupt heute noch erlauben, weiss Hüseyin nicht. «In Afghanistan ist nun auch Winter. Es ist sehr kalt und es schneit», berichtet er.
Ein Zuhause schaffen
«Viele junge Menschen kommen hier in der Schweiz zurzeit mit nur noch wenig Kleidung an. Manchen wird sie auf dem Fluchtweg gestohlen. Es gibt darunter Kinder, die bei ihrer Ankunft nicht einmal mehr Socken haben», erzählt Ute Fritzsch traurig und bittet: «Wir haben Kleiderspenden, aber wir brauchen vor allem warme Sachen. Jacken, Mützen, Schals, Handschuhe, Socken, Pullis, Hosen und Schuhe – alles in den gängigen Grössen S, M und L kann jederzeit bei uns abgegeben werden. Wir freuen uns über alles.» Der Kanton Aargau erhält vom Staatssekretariat für Migration (SEM) entsprechend seiner Bevölkerungszahl und unter Berücksichtigung von Kompensationsleistungen Asylsuchende, vorläufig aufgenommene Ausländerinnen und Ausländer sowie Flüchtlinge zugewiesen. Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) werden bis zu ihrer Volljährigkeit altersgerecht untergebracht und sozialpädagogisch begleitet.
Die UMA-Asylunterkunft in Villmergen gibt es seit dem Sommer 2022. Ein ehemaliges Firmengebäude wurde dazu hergerichtet. Wo einst Büros und Lagerräume im Betrieb waren, sind heute Schlafzimmer, Aufenthalts- und Sanitätsräume sowie Küchen zu finden. Um den «ehemaligen Business-Flair» etwas wohnlicher zu gestalten, wurden die jeweiligen Etagen in freundlichen, bunten Farben gestrichen. Fotos der jungen Menschen mit ihren Betreuern oder selbst gemalte Bilder zieren die Wände. --mub