Aus Atlanta auf Ahnensuche
26.08.2025 BremgartenCarol Bollinger reiste aus den USA an – sie ist eine Nachkommin des Bremgarter Reformators Heinrich Bullinger
Ein junger Bremgarter übernahm 1531 das Steuer der Zürcher Kirche und machte sie zu einem bedeutenden Zentrum im protestantischen Europa. In ...
Carol Bollinger reiste aus den USA an – sie ist eine Nachkommin des Bremgarter Reformators Heinrich Bullinger
Ein junger Bremgarter übernahm 1531 das Steuer der Zürcher Kirche und machte sie zu einem bedeutenden Zentrum im protestantischen Europa. In Amerika gibt es heute Tausende Nachfahren des Reformators. Eine Nichte aus 14. Generation besuchte nun das Städtli und ging dem Leben und Wirken Heinrich Bullingers auf die Spur.
Hans Rechsteiner
Die Anfrage aus Georgia USA traf im März bei Tourist-Info ein. Ein Ehepaar aus der Stadt Atlanta ersuchte um eine Stadtführung zu den Wirkungsstätten von Heinrich Bullinger (1504–1575) und deutete vage an, dass Carol Bollinger eine Nichte 14. Generation von ihm sei.
Da kam schon etwas freudige Aufregung auf, doch man wollte den anstehenden Besuch nicht an die grosse Glocke hängen. Hinter den Kulissen bereiteten der Bullinger-Spezialist Reto Jäger und Bezirksschullehrer Hans Peter Flückiger (Geschichts-, Geografieund Deutschlehrer) die Themenführung detailliert vor. Sie fanden in Urs Hilfiker einen Übersetzer, der das Manuskript ins Englische transferierte. So begrüssten die beiden vor einigen Tagen am Bahnhof Bremgarten die Gäste, die am Tag davor den Weg des weltberühmten Reformators in Zürich nachgezeichnet hatten – darauf wird noch zurückzukommen sein. Es wurde ein dreistündiger Rundgang, gespickt mit unzähligen Details und interessanten Abschweifungen zu nahen historischen Bezügen jener Zeit.
In den USA heissen sie Bollinger
Wegen der Sprachbarriere konnte die interessante Vorgeschichte erst nach der Stadtführung beim Kafi im «Bijou» erfasst werden. Carol Bollinger (73, Journalistin) und John Yates (72, Elektronik-Ingenieur) leben in Atlanta Georgia, haben drei Söhne und sechs Enkelkinder. Nach der Pensionierung konnten sie endlich auf Ahnenforschung gehen und haben den amerikanischen Teil minutiös aufgearbeitet. Demnach ist im Jahr 1750, wohl begleitet von mehreren Brüdern, ein Heinrich Bullinger aus dem Raum Zürich nach Amerika emigriert. Drüben wurde aus diesem Urahn Heinrich Matthias Bullinger der Henry Bollinger. Er war Soldat im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg, in dem sich die Amerikaner von der Kolonialmacht England frei machten. Ende 1776 ist er dort gefallen, hinterliess aber Kinder. Und so ist Carol in 14. Generation Nachfahrin des Reformators. «Es gibt Tausende Bollingers da drüben», sagt Carol mit einem Lächeln. In Missouri gebe es sogar ein Bollinger Country, von ihnen gegründet.
Ahnenforschungsreise zum 50. Hochzeitstag
Diesen Monat feierten die beiden den 50. Hochzeitstag. Das nahmen Bollinger und Yates zum Anlass für ihre Schweizreise. Und dabei betrieben sie Ahnenforschung. Einen Tag davon haben sie der Stiftung Heinrich Bullinger, Grossmünster, gewidmet. Der Reformator hinterliess einen Briefwechsel, mit mehr als 1100 Personen. Dieser besteht aus 10 000 an ihn gerichteten und eine Unzahl von ihm selbst geschriebenen Briefen in alle Welt. Seine gesamte Korrespondenz ist eine der umfangreichsten des 16. Jahrhunderts. Die Grossmünster Foundation hat sich zum Ziel gesetzt, alles zu digitalisieren und die noch erhaltenen 2000 Bullinger-Briefe, je nach Adressat in Latein oder Frühneuhochdeutsch geschrieben, zu übersetzen. Daran arbeiten Sprachwissenschafter und Historiker seit über 50 Jahren.
Spuren in der Altstadt
Bremgarten war im Jahr 1529 die erste Gemeinde im Freiamt, die sich dem reformierten Glauben anschloss. Der junge Heinrich Bullinger hat die Reformation in Bremgarten eingeführt. Mit der Niederlage der Zürcher in der Schlacht bei Kappel endete jedoch die dreijährige reformierte Phase in Bremgarten, die Stadt wurde wieder altgläubig und blieb drei Jahrhunderte rein katholisch.
Also war der erste Posten dieser Bullinger-Führung ein Fototermin vor der Büste des Reformators bei der reformierten Kirche. Die Stadt Bremgarten hat sie im Jahr 1954 der Reformierten Kirchgemeinde geschenkt, zum 450. Geburtstag Bullingers. Neben dem 1895 eingeweihten Stadtschulhaus war die am 23. September 1900 eingeweihte evangelische Kirche erst ein zweiter Akzent vor den Toren der Altstadt Bremgartens. Es wurde dann auf den Schellenhausplatz disloziert. 1845 war die heutige Spittelkirche – das alte Zeughaus – das erste Gottesdienstlokal der Protestanten in Bremgarten. Weiter gings in die Marktgasse zum Stammhaus der Familie Bullinger, dem einstigen «Haus zum Wilden Mann». Heute ist es die Pizzeria Dolce Vita, die edelste Pizza heisst dort «Pizza Bullinger» – es ist die mit Kalbfleisch.
Nächster Punkt: Ehgräben, die fäkalischen Abwasserkanäle des Mittelalters mit Ratten, Schweinen, Pest, die man regelmässig durch Umleitung des Stadtbachs zu säubern versuchte. Bullingers Ehefrau Anna Adlischwyler, ehemalige Nonne aus Zürich, starb elf Jahre vor ihrem Mann an der Pest, der Schwarze Tod raffte auch einige seiner elf Kinder dahin.
Zum kleinen Vatikan
Die Bremgarter Unterstadt verdient den Ehrentitel «kleiner Vatikan» deshalb, weil im Kirchenbezirk rund um die prächtige Stadtpfarrkirche unzählige Gebäude historischen Hintergrund haben. Heinrich Bullinger besuchte schon als Fünfjähriger die Lateinschule an der Schulgasse. Im Alter von zwölf Jahren wird der Jüngling von seinem Vater nach Emmerich am Niederrhein geschickt. Er lernt dort Griechisch, lebt in armen Verhältnissen. Von Emmerich wechselt er nach Köln. Dort kommt er mit den Schriften Martin Luthers, dem deutschen Reformator, in Kontakt.
Rückkehr mit 18 Jahren nach Bremgarten. Jetzt, im Jahr 1522, ist er Anhänger der neuen Lehre. Er wird Klosterlehrer und lernt Huldrich Zwingli tatsächlich persönlich kennen. 1529 wird Bullinger Stadtpfarrer in Bremgarten, nachdem sein Vater zuvor abgesetzt worden war, weil der sich zum neuen Glauben bekannt hatte. Er musste gar ins Exil flüchten. Und dann gibt es noch die Episode mit Huldrich Zwingli. Der war nachweislich oftmals in Bremgarten. Im Sommer 1531 hat er frühmorgens durchs «Katzentor» beim damaligen Schützenhaus (heute «Bijou») die Stadt verlassen, wenige Wochen vor seinem Tod in der Schlacht bei Kappel. Dann übernahm Bullinger. Es ist auch ein Stück Bremgarter Stadtgeschichte. Eine Geschichte, über die nun auch seine amerikanische Nachfahrin bestens Bescheid weiss.
«Da ist man schon etwas nervös»
Auch für Hans Peter Flückiger, seit diesem Jahr Präsident der Bremgarter Stadtführer, war der Besuch aus Amerika etwas ganz Besonderes. «Es war das erste Mal überhaupt, dass wir eine Stadtführung in einer anderen Sprache durchführten», sagt er. Da frage man sich schon, ob das Zusammenspiel mit dem Übersetzer klappe, und bereite sich noch akribischer vor als normalerweise. Auch der Detailgrad war aussergewöhnlich – eine dreistündige Führung kommt eher selten vor. «Deshalb war ich im Vorfeld schon etwas nervös.» Zumal man ja nie weiss, wen einen erwartet und wie sich die Führung entwickelt.
Der Besuch der Bullinger-Nachfahrin ist ihm dann aber trotz des Dauerregens sehr angenehm in Erinnerung geblieben. «Ich habe Carol Bollinger und ihren Mann als spannende und weltoffene Menschen kennengelernt», sagt Flückiger. Sie seien nicht bloss an Bullinger, sondern auch an Bremgarten sehr interessiert gewesen. «Für die Amerikaner muss unser mittelalterliches Städtchen eine wahre Sensation sein», schmunzelt der Stadtführer. Flückiger kann sich durchaus vorstellen, solche Führungen bei Interesse in Zukunft weiterhin anzubieten. «Schon seit einiger Zeit kann man ja bei uns individualisierte Spezialführungen buchen», erklärt er. Warum also nicht auch künftig auf Englisch, falls das Beispiel Schule macht und sich aus Bollinger Country oder anderswo weitere Interessenten melden. «Das nächste Mal würde ich es mir auch ohne Übersetzer zutrauen», sagt Flückiger lächelnd. --huy