Bruch mit einer Tradition
28.10.2022 BremgartenAltstadtläden mussten am Marktsonntag geschlossen bleiben
Am vierten Sonntag im Oktober haben auch die Altstadtgeschäfte geöffnet. So war das in Bremgarten jahrzehntelang. Doch anlässlich des diesjährigen Marktes der Vielfalt erlebten die Gewerbler ...
Altstadtläden mussten am Marktsonntag geschlossen bleiben
Am vierten Sonntag im Oktober haben auch die Altstadtgeschäfte geöffnet. So war das in Bremgarten jahrzehntelang. Doch anlässlich des diesjährigen Marktes der Vielfalt erlebten die Gewerbler eine böse Überraschung.
Marco Huwyler
Über 20 Jahre lang arbeitet Sonja Conrad schon beim Schuhhaus Borner. Bereits ihre «Stifti» hat sie hier absolviert. Seit vielen Jahren ist sie Geschäftsführerin. Der Job ist für Conrad auch eine Leidenschaft und ein wichtiger Teil ihres Lebens. Und auf den vierten Sonntag im Oktober freut sich die Bremgarterin jeweils besonders. «Der Markt der Vielfalt ist speziell für mich. Die ganze Atmosphäre. Die besonderen Kunden. Und natürlich auch der vergleichsweise hohe Umsatz.» Über doppelt so hoch sei dieser an einem Marktsonntag im Vergleich zu einem normalen Samstag. «Aber das ist nicht einmal das Entscheidende. Das Arbeiten während dieses besonderen Herbstmarktes ist mir einfach ans Herz gewachsen.»
Art. 27 ArGV 1
Entsprechend geschockt war Conrad, als sie vor rund eineinhalb Wochen einen Brief des Kantons öffnete. «Ich tat dies in der Erwartung, dass es sich dabei um den Einzahlungsschein für die Bearbeitung unseres Gesuchs handelte.» 70 Franken stellt der Kanton den Geschäften jeweils dafür in Rechnung, dass er die Bewilligung für die Sonntagsarbeit während der Bremgarter Märkte ausstellt. Zumindest war das einmal so. Heuer tönte es folgendermassen: «Das Amt für Wirtschaft verfügt: Das Gesuch kann nicht bewilligt werden, da gemäss Art. 27 ArGV 1 kein dringendes Bedürfnis geltend gemacht werden kann.» Conrad musste sich erst einmal setzen. «Danach hat es mich übermannt. Ich bin richtig emotional geworden. Die Absage traf uns aus heiterem Himmel. Wir hatten fest mit dem Sonntag gerechnet und uns schon alle darauf vorbereitet.» Wie Conrad ging es vielen in Bremgarten. Sämtliche Altstadtgeschäfte erhielten den gleichen Bescheid.
Der neue Inspektor
Der Entscheid zur Ablehnung der Gesuche für Sonntagsarbeit wurde durch die Industrie- und Gewerbeaufsicht des Kantons Aargau getroffen. Dort kam es im vergangenen Jahr zu einem Personalwechsel. Für den neu verantwortlichen Inspektor ist der Fall eindeutig: «Die Rechtslage für diesen Fall ist sehr klar, weshalb es uns nicht möglich war, den betroffenen Geschäften einen positiven Bescheid zu geben», sagt er.
Die gesetzliche Grundlage besage, dass Arbeitnehmende von Verkaufsgeschäften an Sonntagen nicht arbeiten dürfen. Ausnahmen werden lediglich an zwei Wochenenden im Advent gewährt. Dieser Umstand geht zurück auf eine Gesetzesänderung im Jahr 2012. Per Volksabstimmung wurde eine entsprechende Änderung
Arbeitsgesetz abgesegnet. «Im Prinzip hätten die Bremgarter Altstadtgeschäfte seither keine Bewilligung mehr erhalten sollen. Die ausgestellten Bewilligungen der vergangenen Jahre beruhen auf einer gesetzlichen Grundlage, die nicht mehr besteht. Dies wurde nun korrigiert», sagt der neue Inspektor. Offenbar hatte dies sein Vorgänger noch anders gesehen und die Gesetze für Bremgarten ziemlich grosszügig ausgelegt.
Schlupflöcher für Ladenbesitzer
Zu den Betroffenen, die sich über die Änderung der Handhabung der Gesuche enorm geärgert haben, gehört auch Biggi Winteler. Seit nunmehr 11 Jahren verkauft sie ihre Heil- und Schmucksteine mittlerweile in Bremgarten. Und auch sie hatte am Synesisonntag bisher immer geöffnet. «Die neue Handhabung ist geschäftsschädigend für uns Kleinstbetriebe. Meine Kundschaft aus der ganzen Schweiz ist es gewohnt, dass wir offen haben, und rechnet damit. Ich mache das ganze Jahr Werbung für unsere Märkte und kaufe vor dem Markt auch mehr ein», sagt sie. Den Bescheid des Kantons einfach stillschweigend zu akzeptieren und die Pforten geschlossen zu halten, war für die ehemalige FAB-Präsidentin keine Option. «Sonst heisst es noch, die habens nicht mehr nötig … Und gerade nach Corona hätten wir es alle dringend nötig!»
Intensiv stand Winteler deshalb in den Tagen vor dem Markt der Vielfalt – auch sie hatte den überraschend abschlägigen Bescheid des Kantons rund eine Woche vor Marktbeginn erhalten – in Kontakt mit diversen Entscheidungsträgern und bemühte sich um eine Lösung. Und zumindest teilweise fand Winteler eine solche. Denn das Gesetz bietet Schlupf löcher. Geschäftsinhaber dürfen selbst, mit direkten Verwandten (Kindern und Eltern) oder mit freiwilligen Helfern arbeiten. Diese dürfen jedoch nicht angestellt sein in der Firma. So suchte Winteler auf Basis dieser Bestimmungen nach einer kurzfristigen Lösung. «Ich habe in meinen Whatsapp-Status geschrieben, dass ich dringend jemanden zur Unterstützung für den Marktsonntag suche», erzählt sie. Gemeldet haben sich zwei Kolleginnen. Dank ihnen hatte sie schliesslich die dringend benötigte Hilfe. «Ich bin den beiden sehr dankbar. Zu dritt haben wir es irgendwie gemeistert. Es war zwar stressiger als sonst, weil meine Kolleginnen natürlich nicht die Routine und Ladenkenntnis meiner Angestellten haben, aber es ging irgendwie», erzählt Winteler.
Wie die Inhaberin des Steinlädeli machten es auch die Bijouterien «Saner» und «Am Bogen», die beide dank familiärer Unterstützung am Sonntag geöffnet waren. Unmöglich war dies dagegen aufgrund der Eigentumsverhältnisse für andere. Wie etwa die Altstadt-Optik und das Schuhhaus Borner mit Sonja Conrad. Beide mussten geschlossen bleiben. «Als Geschäftsführerin bin ich laut Gesetz auch eine Angestellte. Eine Familien- oder Freiwilligenlösung war deshalb für uns nicht möglich», erzählt Conrad.
Beschwerde wird eingereicht
Biggi Winteler leidet derweil mit ihrer Kollegin mit. «Es tut mir sehr leid für Sonja», sagt sie. Gemeinsam wollen sich die beiden dafür einsetzen, dass nächstes Jahr wieder alle eine Bewilligung für den Markt der Vielfalt erhalten und ihre Angestellten dann auch einsetzen dürfen. «Wir werden beim Kanton eine offizielle Beschwerde gegen den Entscheid einreichen», bekräftigt Winteler, die dafür juristischen Rat einholen wird.
Welche Chancen ein solcher Rekurs hat, kann die 53-Jährige schwer abschätzen. «Es geht uns primär auch einmal darum, einen Fuss in der Tür zu haben und beim Kanton zu deponieren, dass wir mit der nun geltenden Regelung nicht einverstanden sind», sagt sie. Dass man hier am Ball bleibe und für sein Anliegen kämpfe, sei nicht nur für sie selbst, sondern für das ganze Städtli wichtig. «Für unser Gewerbe, aber auch für das Ansehen Bremgartens als Marktstadt. Wie traurig sieht es denn aus, wenn an einem belebten Markttag alle Geschäfte geschlossen bleiben?», fragt sie rhetorisch.
Der Stadtammann will helfen
Dies sieht auch Raymond Tellenbach so. Er hat dem Altstadtgewerbe seine Unterstützung in der Sache zugesagt. «Wenn die Beschwerde Wintelers abgelehnt wird, überlegen wir uns weitere Massnahmen», sagt der Bremgarter Stadtammann.
Über den Dialog werde man versuchen, eine Sondergenehmigung zu erreichen. «Wir werden sicherlich unsere Bremgarter Grossräte kontaktieren, sie bitten, das Anliegen nach Aarau zu tragen und dort für uns zu weibeln. Und ich werde das Gespräch mit dem zuständigen Regierungsrat Dieter Egli suchen», sagt Tellenbach. «Dann werden wir ausloten, was sich wie auf welchem Weg machen lässt und wie wir unserem Gewerbe bestmöglich helfen können.» Mit vereinten Kräften soll es also gelingen, den Kanton umzustimmen und die Gesetze für das Städtli wieder gerade zu biegen. Damit auch Lädeler wie Sonja Conrad im nächsten Jahr wieder ihren sonntäglichen Beitrag zu einem schweizweit einzigartig vielfältigen Markt leisten dürfen.