Das Gesicht wahren

  20.08.2021 Muri

Sommerserie «Zwei Welten»

Jasmine Bizzotto-Chan ist in China geboren. Jetzt hat sie in Muri ihr Zuhause gefunden.

China ist ein Land der Gegensätze. Traditionelle Tempel und alte Gebäude stehen dicht an dicht neben riesigen Hochhäusern und modernen Wolkenkratzern. Die Landschaft ist sowohl von Flachland als auch von hohen Gebirgen geprägt. Beeindruckende Natur trifft auf dicht besiedelte Grossstadt.

Auch die Schweizer Kultur und die chinesische weisen Gegensätze auf. «Den Chinesen ist es ein grosses Anliegen, jederzeit das Gesicht zu wahren. China ist ein Land, das Wert auf alte Tradition legt und auch von ausländischen Besuchern ein entsprechendes Verhalten erwartet. Zurückhaltung und Respekt sind dabei besonders wichtig», erklärt Jasmine Bizzotto. So gilt es beispielsweise immer auf die Minute pünktlich zu sein, Verspätungen gelten als respektlos. --sus


Eier und Nudeln zum Geburtstag

Serie «Zwei Welten»: Jasmine Bizzotto-Chan besitzt den Schweizer und den chinesischen Pass

Geboren wurde sie auf der kleinen Insel Gulangyu in Süd-China. Mit zehn Jahren zog sie mit ihren Eltern in die Metropole Hongkong. Heute ist sie in Muri zu Hause. Jasmine Bizzotto-Chan vereint ganz unterschiedliche Kulturen und schätzt sowohl die eine wie auch die andere.

Susanne Schild

Ihren grössten Kampf im Leben hatte sie mit dem Konsonanten «R». «Im Chinesischen gibt es diesen Laut nicht. Viele Jahre habe ich täglich geübt. Aber es liegt in meiner Mentalität, nicht aufzugeben.» Heute rollt Jasmine Bizzotto-Chan das «R» perfekt. «Darauf bin ich schon etwas stolz. Es gibt nur wenige Chinesen, die das beherrschen.» Umgekehrt falle es den Europäern im Chinesischen extrem schwer, mit der Zunge nach hinten abgerollt zu sprechen. «Viele haben hier das Gefühl, sie würden sich die Zunge brechen. So hat jede Sprache ihre Eigenheiten und Herausforderungen», weiss sie aus Erfahrung.

Die chinesische Grammatik hingegen sei viel einfacher, da die Verben nur in der Grundform verwendet würden. Dagegen sei die Betonung der einzelnen Silben sehr wichtig. «Stimmt diese nicht, verändert sich die Wortbedeutung komplett. Was manchmal fatale Folgen haben kann.»

Die Liebe in Hongkong getroffen

Die wichtigste Zeit ihres Lebens verbrachte sie in Hongkong. Mit zehn Jahren zog sie mit ihren Eltern in die Metropole. «Auf der kleinen Insel, wo ich geboren wurde, gab es nicht einmal Autos. Die Veränderung war schon sehr gross.»

Dennoch prägte sie die Zeit in Hongkong. Dort ging sie zur Schule und absolvierte ihr Bachelor Studium zur Modedesignerin an der Hongkong Polytechnik Universität. In Hongkong lief ihr auch ihr Mann über den Weg. Zufällig traf sie diesen dort zum ersten Mal in einer Diskothek. Zwei Tage später flog dieser wieder zurück in die Schweiz.

«Damals gab es noch keine E-Mails. Auch das Telefonieren war sehr teuer. Deshalb schrieben wir uns täglich Briefe. Das war sehr romantisch. Jeden Tag lief ich zum Briefkasten und wartete voller Sehnsucht auf die Post», erinnert sie sich zurück. Der Liebe wegen verliess sie ihre Heimat und zog nach Muri. «Der Unterschied zwischen den Kulturen ist gross.» Hongkong sei eine Stadt, die niemals schlafe. Die Geschäfte sind 24 Stunden sieben Tage lang geöffnet. «Das ist in Muri komplett anders.» Sie bezeichnet sich selbst als Stadtmenschen. «Mein Gott, was mache ich hier», ging ihr zu ihren Anfangszeiten in Muri oft durch den Kopf. «Doch je älter ich werde, desto mehr schätze ich die Ruhe und die Natur.»

Zweimal im Jahr Geburtstag

Eine Wanderung zu unternehmen, was das bedeutet, hatte sie anfänglich überhaupt nicht verstanden. «Wandern, was ist das? Was soll das?» Heute geniesst sie es umso mehr. «Die Schweiz ist ein sehr schönes Land. Ich lebe in einem Paradies aus Bergen und Seen. Alles liegt sehr nahe zusammen.» In China feiert sie ihren Geburtstag wegen des anderen Kalendersystems im Juni. In der Schweiz fällt dieses Datum auf den August. «Zweimal im Jahr Geburtstag zu feiern, hat auch seine Vorteile», meint sie.

Ihre Mutter hat ihr immer Eier und Nudeln zum Geburtstag gekocht. «Das ist sozusagen mein chinesischer Geburtstagskuchen. Eier symbolisieren die Geburt und die Nudel steht für ein langes Leben.»

Geschenke spielen in der chinesischen Kultur eine grosse Rolle. «Auf jedes Geschenk muss ein Gegengeschenk folgen. Alles andere wäre sehr unhöflich und respektlos. Das Schenken ist bei uns eine niemals endende Geschichte», erklärt sie. Anders als in der Schweiz werden die Geschenke in China jedoch nicht sofort ausgepackt. Es wird gewartet, bis die Gäste zu Hause sind. «Es kostet mich heute noch grosse Überwindung, das Geschenk sofort auszupacken.»

Auch mit den Schweizer Begrüssungsküssen ringt sie noch heute. «In China hält man Distanz. Wenn man sich die Hände schüttelt, dann ist das zaghaft, wie ein Streicheln, im Gegensatz zu dem festen Händedruck hier. Ich habe immer Angst, dass ich jemanden verletze. Geküsst wird gar nicht.»

Im Gegensatz zu den ruhigen Schweizern sind die Chinesen ein eher lautes Volk. «Wir sind ähnlich wie die Italiener. Wenn ich mit meiner Mutter telefoniere meinen meine Nachbarn oft wegen der Lautstärke des Gesprächs, wir hätten uns gestritten.»

Essen hat in China einen grossen Stellenwert

Das Essen spielt in China eine grosse Rolle. «Das kann man daran erkennen, dass man, wenn man Gäste hat, sich primär über das Essen unterhält.» In der Schweiz spricht man hauptsächlich über das Wetter.» Den Fisch und das Gemüse vermisst sie am meisten. Milchprodukte und Süsswaren kommen in der chinesischen Küche nur sehr wenig vor.

Zudem isst man überwiegend warm. «An das süsse Frühstück mit Zopf und Konfi, und auch noch kalt, musste ich mich wirklich gewöhnen. In China isst man zum Frühstück eine warme Reissuppe.» Käse und Brot zum Abendessen auch wieder kalt. Ich brauch etwas Warmes.»

Ob Fisch, Huhn oder Gemüse, alles kommt so frisch wie möglich auf den Tisch. In den Restaurants sind überall Aquarien, in denen man sich seinen noch schwimmenden Fisch aussucht. Auch das Huhn, das man auf dem Markt auswählt, wird erst beim Kauf geschlachtet. «Alles bleibt frisch bis zur letzten Minute.»

Sexy, aber hochgeschlossen

Was der Schweizerin ihre Tracht ist, ist für die Chinesin der «Qipao», ein typisch chinesisches Kleidungsstück. Es zeichnet sich durch einen hochgeschlossenen Kragen aus, ist sehr enganliegend hat aber einen langen Schlitz am Bein. «Das ist schon sehr sexy», meint sie mit einem Lachen. Meistens weist der Stoff ein Drachenoder Blumenmuster auf. «Die bevorzugte Farbe ist Rot. Deshalb heiratet man in China auch nicht in Weiss, sondern in Rot. Rot steht für Glück, Weiss für Unglück.»

So unterschiedlich die beiden Kulturen auch sein mögen, Jasmine Bizzotto-Chan ist froh, beide zu kennen. «In der Schweiz begegnen sich alle auf Augenhöhe. Das schätze ich sehr.» In China gebe es eine strenge Hierarchie. Politiker seien beispielsweise sehr abgeschottet und niemals ohne Bodyguards unterwegs. «Als ich eines samstags in Muri zu meinem Friseur ging, konnte ich meinen Augen kaum trauen, als ich die damalige Bundesrätin Doris Leuthard mit Farbe auf dem Kopf ganz normal wie jeder andere auch auf dem Friseurstuhl sitzen sah.»

Rückkehr nicht ausgeschlossen

Ob sie jemals wieder nach Hongkong zurückkehren wird, weiss sie nicht. «Wer weiss, vielleicht. Eigentlich gehöre ich zu keinem der beiden. Ich habe das Gefühl, mal hier und mal da zu sein.» Eines jedoch wäre wirklich ein Grund für sie, der Schweiz den Rücken zu kehren: «Das Klima in Hongkong ist sehr warm und sehr grün. Das Wetter in der Schweiz macht mich fast wahnsinnig.»


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