Der Claude Nobs des Freiamts
06.08.2021 MuriÜbermorgen Sonntag startet «Musig im Pflegidach» in die 20. Saison
Das Familiäre. Das schätzen sie alle, die Musiker ganz besonders. Wer bei «Musig im Pflegidach» auftritt, sitzt vorher bei Stephan Diethelm am Familientisch und wird verköstigt. Seit 2007 handhabt das Stephan Diethelm so. Es ist ein Puzzleteil, das die Musikreihe zur Erfolgsstory macht.
Annemarie Keusch
Jeden Sonntag ist es das Gleiche. Zur Vorspeise Gemüse-Dip und aufgeschnittenes Fleisch. Als Hauptspeise Pasta mit einer Tomatensauce à la Diethelm. Zum Dessert ein Karamelköpfli. Nach dem Konzert eine Käseplatte. Die ganze Palette abgedeckt mit lauter Gerichten, die fast jeder mag. 2007 begannen Stephan Diethelm und seine Frau, die Musikerinnen und Musiker, die damals noch bei «Musig im Stern» auftraten, bei sich zu Hause zu verköstigen. Seither ist das Menü praktisch gleich geblieben. «Die Tomatensauce habe ich über all die Jahre perfektioniert», sagt Stephan Diethelm und lacht.
Gerne nah bei den Musikern
Diethelm ist Initiator, Kopf und Herz von «Musig im Piegidach». Und das Persönliche, das Familiäre ist das, was die Musikerinnen und Musiker an seiner Reihe ganz besonders schätzen. «Sind sie auf Tour, essen sie zu 90 Prozent in Restaurants. Dass sie bei jemandem zu Hause sind, der extra für sie kocht, ist für sie speziell. Das wird geschätzt», sagt Diethelm. Und dafür nimmt er gerne den Aufwand auf sich, jeden Sonntagmorgen alles vorzubereiten, auch glutenfreie Pasta, wenn gewünscht. Dass er die Musikerinnen und Musiker zu sich nach Hause einlädt vor dem Konzert, brachte ihm die Bezeichnung «Claude Nobs des Freiamts» ein. Auch der Gründer und langjährige Leiter des Montreux Jazz Festivals machte das. «Ich habe nicht deswegen damit angefangen», sagt Diethelm. Vielmehr sei er einfach gerne nahe an den Musikern. «Mit ihnen am Familientisch zu sitzen, gibt eine ganz andere Verbindung.»
Eine Verbindung, die oft länger hält. In den 20 Jahren «Musig im Pflegidach» bekochte er manche musikalische Grösse.
Sein Kind ist erwachsen geworden
Seit zwei Jahrzehnten gehört «Musig im Pflegidach» zum Murianer Kulturangebot
Zuerst im «Stern», später im «Ochsen» und seit sechs Jahren im «Pflegidach». Die Musikreihe von Stephan Diethelm hat sich entwickelt über die zwei Jahrzehnte. Und das nicht nur örtlich gemeint. Das Kleinkind «Musig im Stern» ist als «Musig im Pflegidach» erwachsen geworden. Über die 20 Jahre sammelte Diethelm viele schöne Momente.
Annemarie Keusch
Aus dem Trott ausbrechen. Abwechslung. Stephan Diethelm sucht das, braucht das. Etwa wenn in jeder Saison etwas Neues dazukommt. Sei es neues Licht, oder sei es ein ganz grosses Projekt, wie die Vinyl-Platten. «Das bricht die Routine», sagt Stephan Diethelm. Die Routine brechen, sich inspirieren lassen, das macht Diethelm jeden Sonntag. «Wenn ich jeden Sonntag den besten Schlagzeugern zuhören kann, gibt das jedes Mal einen Kick», sagt Diethelm. Es ist seine Motivation, sein Feuer, die er mit in die neue Woche nimmt. Die er seinen Schlagzeugschülerinnen und -schülern weitergibt. «Wer jahrelang im gleichen Beruf tätig ist, läuft Gefahr, in einen Trott zu gelangen. Dank den sonntäglichen Konzerten passiert mir das nicht.»
Seit 20 Jahren ist das so. An über der Hälfte der Sonntage im Jahr organisiert Diethelm mit einem über die Jahre angewachsenen Team Konzerte. Zuerst im «Stern», später im «Ochsen», jetzt im «Pflegidach». Die Inspiration hat er von dort, wo auch viele seiner Gäste die musikalische Heimat haben: New York. Die «55 Bar» erwähnt er mehrmals. Hier spielen an einem Abend drei Bands, ohne Soundcheck, mit fünf Minuten Vorbereitungszeit. 1997 war auch Diethelm oft unter den Zuhörern. «So etwas will ich in Muri machen.» Mit dieser Idee reiste er zurück.
Viele Freundschaften sind entstanden
Über 20 Jahre später sei es nicht primär Stolz, der ihn erfülle, wenn er zurückblickt. «Es ist einfach Freude», sagt Diethelm. Freude, dass die Musikreihe auf eine treue Stammkundschaft zählen kann. Freude, dass Musikerinnen und Musiker immer wieder gerne nach Muri kommen. Und Freude, dass sie in ihm mehr sehen als nur den Organisator. «Ich darf sagen, dass viele Freundschaften entstanden sind», sagt Diethelm. Er holt die Musiker vom Flughafen ab, bekocht sie, wenn sie wollen, können sie ihn auf seiner Joggingrunde oder bei Wanderungen begleiten. «Da sind ganz andere Beziehungen entstanden. Und genau das bereitet mir unendlich Freude.»
Zurückversetzen kann sich Stephan Diethelm schlecht. «Ich blicke viel lieber nach vorne», sagt er. Ob er 2001, als das erste Konzert unter dem Namen «Musig im Stern» stattfand, daran dachte, dass er 20 Jahre später diese Musikreihe immer noch organisieren würde? «Ich denke nicht», meint er. Er habe sicher Pläne gehabt. «Aber primär habe ich aus dem Moment heraus etwas kreiert.» Diethelm erinnert sich an viele magische Momente. «Die Enge im Café Stern war ganz speziell, fast extrem. Aber das machte es aus.» Der «Ochsen» sei aus Sicht der Musiker ideal gewesen. «Fünf Minuten vor Konzertbeginn das Hotelzimmer zu verlassen, ist natürlich Luxus.» Im «Pflegidach» nun seien die Voraussetzungen aber ideal. «Mit den dortigen Gegebenheiten können wir mit den Grossen konkurrieren.» Im «Stern» ein Kleinkind, im «Ochsen» pubertierend und jetzt im «Pflegidach» erwachsen geworden, feiert Stephan Diethelms Baby am Sonntag seinen 20. Geburtstag.
Ideen hat er immer
Verändert hat sich in den zwei Jahrzehnten nicht nur die Lokalität. War «Musig im Stern» anfangs von einer Gruppe organisiert, ist seit 18 Jahren Stephan Diethelm alleine für die Programmplanung zuständig. «Jetzt spielen nur noch Bands, von denen ich wirklich begeistert bin», sagt er und lacht. Auch Generalabonnemente wurden zwischenzeitlich eingeführt, die Digitalisierung hielt Einzug, Werbung findet immer mehr im digitalen Raum statt. «Wir haben uns angepasst.» Für viele Veränderungen sorgte auch die Pandemie. «Grundsätzlich ist es aber immer noch wie vor 20 Jahren. Ich lade Bands ein, die mir gefallen, und hoffe, dass sie auch anderen gefallen.»
Und wie sieht Stephan Diethelm die Zukunft von «Musig im Pflegidach»? «Ideen schweben immer umher», sagt er. Gerade mit den Hotels, die fast fertig renoviert sind, ergeben sich für ihn neue Möglichkeiten, etwa, die Musiker mehr als einen Tag in Muri zu haben. Aber Diethelm sagt auch: «Irgendeinmal darf es fertig sein.»
Vielleicht dann, wenn er in neun Jahren pensioniert wird und nicht jeden Sonntag neue Inspiration für das Unterrichten unter der Woche tanken muss. Oder dann, wenn die Pandemie die Situation noch schwieriger werden lässt. Zuerst wird aber gefeiert. Wie es sich für einen 20. Geburtstag gehört.