Der Nebel wurde immer mehr
22.07.2022 Region UnterfreiamtSommerserie «Leben mit Handicap»: Kurt Stöckli aus Villmergen ist blind
Bis er 40 Jahre alt war, führte er ein ziemlich normales Leben. Eine seltene Erkrankung raubte Kurt Stöckli dann immer mehr das Augenlicht. «Heute bin ich zu 99 Prozent blind. Aber dieses eine Prozent hilft mir noch gewaltig», erklärt der 60-Jährige, der sich mehr Offenheit gegenüber Blinden wünscht.
Stefan Sprenger
Als kleiner Junge spielte er Handball. Beim TV Wohlen. «Ich spielte immer rechts aussen, damit ich trotz bereits vermindertem Gesichtsfeld den Überblick wahren konnte», sagt Kurt Stöckli, der in Wohlen aufgewachsen ist. Er leidet an einer seltenen Augenkrankheit namens Chorioideremie. Nur rund 100 Menschen in der Schweiz sind von dieser Netzhaut-Aderhaut-Dystrophie betroffen. Meist sind dies Männer. «Die Frauen sind lediglich Träger der Krankheit und vererben das defekte Gen auf ihrem X-Chromosom. Einfach gesagt, geht die Netzhaut von aussen nach innen kaputt.» Doch dies dauert. In jungen Jahren merkt man noch nicht viel. Erst im späteren Lebensabschnitt wird die Krankheit so richtig zur Belastung.
Ab 40 wurde es schwieriger
So war es auch bei Kurt Stöckli. Als Jugendlicher erhält er zwar die Diagnose, lebt dann aber drei Jahrzehnte ohne grössere Einschränkungen. Nachts habe er schon immer schlecht gesehen, aber sonst bekam er die Krankheit nur dezent zu spüren. Stöckli macht eine Lehre auf der Bank, arbeitet 25 Jahre als Börsenhändler für verschiedene Banken an der Börse in Zürich. Lange Zeit geht das gut. «Ein ganz normales Leben», beschreibt Stöckli die ersten vier Jahrzehnte. Ab seinem 40. Lebensjahr wird es immer schwieriger, sein Sichtfeld immer eingeschränkter. Erst ist es der Pfeil am Computerbildschirm, dem er nicht mehr folgen kann. Er sieht «immer mehr Nebel», wie er es nennt. Schliesslich muss er an öffentlichen Plätzen, beispielsweise an Bahnhöfen, den Wänden entlangschleichen, um nicht in jemanden hineinzulaufen.
Mit 50 Jahren kann er nicht mehr arbeiten. «Trotz Handicap konnte ich im Berufsleben lange Zeit mithalten.» Er legte sich Taktiken zurecht, die ihm geholfen haben, den Alltag zu meistern. Doch irgendwann wurde es einfach zu anstrengend. Irgendwann hat er einfach zu wenig gesehen. Und das musste er sich zuerst eingestehen.
Heute ist Kurt Stöckli 60 Jahre alt. Rechts sieht er «nur noch Nebel». Links hat er noch einen ganz kleinen Röhrenblick. «Wenn jemand gleich gegenüber sitzt und ich mich fokussiere, sehe ich beispielsweise sein Auge. Ein kleiner Ausschnitt, aber das Licht muss perfekt sein», so Stöckli. Zu 99 Prozent sei er blind. «Dieses eine Prozent, das übrig ist, hilft mir aber gewaltig.»
Ebenfalls eine grosse Hilfe ist seit rund einem Jahr der Blindenführhund namens Moshi. «Ich bin mobiler. Er gibt mir ein Stück Freiheit zurück», sagt Stöckli. Der Hund – der die Kommandos auf Italienisch entgegennimmt – sei natürlich auch Aufwand und der Tag braucht eine strikte Struktur, da auch Moshi Gassi gehen muss. «Aber es lohnt sich.»
Durch Moshi viel mehr in Kontakt mit den Menschen
Auch, weil Stöckli dank seinem Hund viel öfter mit Menschen in Kontakt kommt. «Ich lebe seit 1993 in Villmergen am Bullenberg. Also fast 30 Jahre. In der ersten Woche, als Moshi bei uns angekommen ist, habe ich mit mehr Nachbarn geredet als in den 30 Jahren davor», lacht er. Ihm selbst ist es ein grosses Anliegen, dass Mitmenschen keine Scheu haben vor Blinden. «Es ist ein Phänomen. Wenn ich in einen Raum komme, wird es ganz ruhig. Dabei helfen mir Geräusche bei der Orientierung.» Stöckli erlebt in seinem Alltag viel Hilfsbereitschaft. Aber auch Distanz. «Manchmal weiss man vielleicht nicht so recht, wie man mit einem Blinden umgehen soll.» Er schiebt die Antwort hinterher: «Ganz normal.»
«Outing» des Blindenstocks
Vor etwas mehr als zehn Jahren habe er sein «Outing» gehabt. Und zwar mit dem Blindenstock. Dieser weisse Langstock war für ihn eine grosse Hürde. Denn damit machte er auf sich aufmerksam und jeder wusste sofort, dass er blind ist. Eine grosse Hemmschwelle. Er kann sich noch gut erinnern, als er auf dem Weg in die Blindenschule in Basel zum ersten Mal diesen Stock ausklappte und förmlich spürte, wie die Menschen ihn ansahen. «Der Puls ging hoch», erzählt er. Die Leute wichen ihm fortan vermehrt aus und fragten viel mehr als zuvor, ob er Hilfe benötigt. Heute ist der Blindenstock etwas ganz Alltägliches. «Es ist ein einfaches, aber sehr hilfreiches Mittel.»
Was Stöckli auffällt: In den vergangenen Jahren, wo der Handy-Konsum immer mehr zunimmt, achten sich die Menschen kaum mehr auf ihre Umwelt. «Der Blick geht starr nach unten auf das Handy», so Stöckli. Ein Fakt, der seinen Alltag erschwert, wenn er beispielsweise mit Bus oder Bahn unterwegs ist. Apropos ÖV. «Diese weissen, dickeren Linien an den Bahnhöfen sind Leitlinien für uns Blinde», sagt Stöckli und erzählt, dass viele Menschen nicht wissen, wozu sie da sind. Ebenfalls wissenswert: Wenn ein Blinder am Strassenrand steht und seinen Stock in die Luft hält, ist der Autofahrer verpflichtet, anzuhalten.
«Mitmenschen sensibilisieren»
Stöckli ist mit Hund Moshi meist in Villmergen und Wohlen unterwegs. Hier, wo er sich bestens auskennt. Hier, wo ihn auch viele Menschen kennen. «In den allermeisten Fällen sind die Menschen sehr hilfsbereit.» Und auch er versucht zu helfen. Beispielsweise ist er Vorstandsmitglied im Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverband (SBV) in der Sektion Aargau /Solothurn. Stöckli war auch kurz Präsident, ist mittlerweile für die Finanzen verantwortlich. «Wir Sehbehinderten müssen uns auch gegenseitig helfen. Und wir müssen versuchen, unsere Mitmenschen zu sensibilisieren.» Deshalb engagiert er sich als Vorstandsmitglied.
Auf einem Ohr taub
Vor sieben Jahren hatte er einen Hörsturz, er hört seither auf dem linken Ohr nichts mehr. «Das hat mich stark runtergedrückt, weil wir Blinden sehr auf unser Gehör angewiesen sind.» Seine Umwelt muss er nun noch mehr mit anderen Sinnen wahrnehmen. Wenn er eine Treppe heruntersteigt, dann «fühlt» er die Stufen mit den Füssen. Wenn er im Wald ist, dann «atmet» er den Wald ein. Geruchssinn und Spürsinn, sie sind etwas ausgeprägter bei ihm als bei einem Sehenden.
Die Erbkrankheit war viele Jahre lang kein Problem. «Ich habe erst als 50-Jähriger gemerkt, wie stark sie mich beeinträchtigt.» Drei seiner Cousins hatten ebenfalls Chorioideremie. Und als er seine Frau Doris kennenlernte, stellte er sich die Frage, ob er es verantworten kann, Kinder auf die Welt zu bringen mit dem Risiko, dass auch sie diese Krankheit in sich tragen. Er wurde dreifacher Vater (alles Töchter) und ist mittlerweile Grossvater eines Buben. Ob er den Gen-Defekt ebenfalls in sich hat, weiss man noch nicht. Die Chancen liegen bei 50 Prozent. Für die Familie war dies jedoch kein Grund, auf Nachwuchs zu verzichten. Stöckli ist der lebende Beweis, dass ein Leben trotz dieser Augenkrankheit enorm lebenswert ist. «Bis 40 habe ich ganz normal gelebt.»
Heilung in Sicht
Und: Es gibt Hoffnung. An einer Gen-Therapie wird gearbeitet und in klinischen Tests konnten erste Erfolge erzielt werden. Es könnte sein, dass man die Krankheit bald heilen oder stoppen kann. «Aber für mich ist das zu spät.»
Aus seiner fortschreitenden Blindheit macht Stöckli das Beste. Er suchte sich neue Wege. Er wurde Sprachlehrer in der Erwachsenenbildung. Und hat auch sonst neue Dinge ausprobiert. Jeden Tag erlebe er viele kleine Abenteuer, die ihn immer wieder aufs Neue herausfordern. «Wird das Sichtfeld klein, wird auch die Welt kleiner. Das heisst aber nicht, dass es einfacher wird», so Stöckli und macht gleich ein Beispiel. Früher reiste die Familie in die USA in den Urlaub. «Ein Riesen-Abenteuer», sei das gewesen. «Heute fahre ich mit dem Bus von Wohlen nach Villmergen und es ist ein Abenteuer.»
Die Frau an seiner Seite
Alltägliche Dinge kosten ihn viel Kraft. Er schlafe dafür immer sensationell. «Ich bin dankbar, dass ich alles erleben durfte. Dankbar, so ein tolles Leben und eine wunderbare Familie zu haben. Und ich bin dankbar für die vielen Menschen, die mir zur Seite stehen.» Allen voran seine Frau Doris. Für sie sei es nicht immer einfach gewesen, einzuschätzen, wie viel er noch sieht. Sie kennt ihn schon rund 40 Jahre und erlebte ihn noch als Menschen, der kaum Probleme hatte mit dem Sehen. «Kommunikation ist das A und O», erzählt Doris Stöckli, die ihn im Alltag stark unterstützen muss. Doch sie meistert das hervorragend, wie ihr Mann erzählt. «Ich bin nur gestresst, wenn er gestresst ist», schiebt sie nach und lächelt dabei. Und auch wenn ihr Mann ihre Gestik nicht sieht, beginnt auch er zu lächeln, als würde er es spüren.
Informationen zum Thema Blindheit gibt es auf der Homepage des Schweizerischen Blinden- und Sehbehindertenverbands (Sektion AG/SO) unter www.sbv-bvas.ch.