Der Sportfanatiker
05.06.2020 SportDer Waltenschwiler Felix Bingesser tritt als dienstältester Sportchef des «Blick» ab
Ein Meinungsmacher mit diplomatischen Fähigkeiten und einer, der seine Probleme beim Spazierengehen löst. Felix Bingesser, der Sportfanatiker, wollte eigentlich gar nie Chef werden. Ende Jahr tritt er nach zehn Jahren als Sportchef des «Blick» ab. Freiwillig. Keiner machte es so lange wie er.
Stefan Sprenger
Der Job als «Blick»-Sportchef war ein Schleudersitz. Stete Wechsel innerhalb Jahresfrist waren die Regel. Dann kam Felix Bingesser 2011 – und sorgte für Konstanz im bestbezahlten Sportjournalismus-Job der Schweiz. Dies hat er zu einem Grossteil seiner feinfühlenden, diplomatischen Art zu verdanken. Fairness ist ein hohes Gut bei Bingesser – gepaart mit dem Boulevard-Journalismus nicht immer einfach zu vereinbaren. Doch er hat dies stets geschafft. Er war im Laufe der Jahre auch immer wieder Anfeindungen ausgesetzt. «Ich habe eine dicke Haut», sagt er.
Der Waltenschwiler ist der erste «Blick»-Sportchef, der freiwillig geht. Ab 1. Januar 2021 übernimmt Steffi Buchli für ihn.
Zeit ist Luxus
«Der grosse Rucksack der Verantwortung wird kleiner», so der 57-Jährige. Weniger Sitzungen, mehr Schreiben. Er wird beim «Blick» bleiben. Als Mitglied einer Arbeitsgruppe wird Bingesser sich um die Sportstrategie beim Ringier-Konzern kümmern. Zudem wird er Verwaltungsrat der Ringier Sports AG. Und wieder vermehrt schreiben. Dass er jetzt kürzertreten kann, war sein Wunsch. «Für mich bedeutet Luxus keinen Porsche zu fahren, sondern Zeit zu haben.» Zeit, für Familie, Freunde und für die vielen Hobbys. Skifahren, Spazierengehen, Jassen, gesellig sein.
1987 startete er beim Aargauer Tagblatt. Bingesser ging viermal zur Aargauer Zeitung, zweimal zum «Blick» und gründete das Fachmagazin «Sport». «Das war eine romantische Zeit, als man noch tagelang Zeit hatte für eine Geschichte.» Er war ein Sportreporter mit Leib und Seele. «Ich habe nie eine Chef-Funktion gesucht», meint Bingesser. Ein Sportreporter wird er auch jetzt bleiben. «Journalismus kann man sowieso nicht mit der Stempeluhr defnieren.»
Felix Bingesser erzählt im Gespräch, wie wichtig ihm seine Heimat ist. Er blickt zurück auf seine spannende Karriere, sein ereignisreiches Leben und seine besten Geschichten. Er spricht auch darüber, wie es war, als Hooligans ihm einen toten Fisch in den Briefkasten legten.
Felix der Glückliche
Ein besonderer Mann mit besonderen Geschichten: Eine Annäherung an Felix Bingesser
Ob mit Usain Bolt in Jamaika, Sepp Pjontek in Grönland oder Roger Federer in der Lenzerheide: Felix Bingesser hat im Laufe der Jahrzehnte viele Sportgrössen kennengelernt. Nur mit Nati-Trainer Vladimir Petkovic konnte er sich nicht versöhnen. Ende Jahr tritt er als «Blick»-Sportchef ab und erzählt aus seinem Leben.
Stefan Sprenger
Die medizinische Horrordiagnose vor wenigen Wochen war bedrohlich. «Manchmal kann es im Leben schnell gehen und alles ist anders», sagt Felix Bingesser. Anfang dieses Jahres wurde eine routinemässige Blutdiagnose zum Schock.
Heute kann er wieder lachen. Bingesser sitzt ganz oben auf dem Buneggli in Waltenschwil. Hier, auf diesem kleinen Hügel, hat er vor einem halben Jahrhundert das Skifahren gelernt. «Mit genügend Anlauf kam ich mit den Ski bis vor das Elternhaus», erzählt er. Gleich daneben ging er zur Schule. Und unten auf dem Fussballplatz hat er früher gekickt. Vor 50 Jahren war das noch eine Wiese mit viel Gefälle und zwei Holztoren. Heute gleicht der Platz neben der Bünz einem Wembley-Rasen und ist Heimat der Fussballschule Waltenschwil. Sein Bruder Markus Bingesser gründete den Verein vor über 20 Jahren. «Das hat schnell grosse Ausmasse erreicht und ist heute eine Bereicherung für unser Dorf», sagt Felix Bingesser, der in den Anfangszeiten als Trainer mithalf.
«Ich gehöre genau hierher»
Hier auf dem Buneggli, an diesem besonderen Ort, kommen viele Erinnerungen hoch. Die Heimat ist prägend für Felix Bingesser. Man kennt ihn aber nicht nur in Waltenschwil bestens. In Boswil geht er Freitagabends jeweils jassen – unter anderen auch seit zwanzig Jahren mit Kumpel Roman Kilchsperger. In Wohlen ist er sowieso verwurzelt, auch wegen seiner Zeit beim FC Wohlen, wo er bis ins Seniorenalter kickte. «Ich mag die Anonymität der Grossstadt nicht. Hier kennen mich die Leute, und ich kenne sie. Ich gehöre genau hierher.» Dass er gemeinsam mit seinen Jugendfreunden älter wird, hat etwas Tröstliches. «Nichts ist unendlich. Mit bekannten Menschen fällt das Altwerden leichter», so der 57-Jährige.
Die Liebe zum Sport, sie beginnt auf dem Buneggli mit Skifahren und Fussball. «Bingi», wie ihn viele nennen, schreibt schon in jungen Jahren gerne. «Der Job als Sportreporter ist mir auf den Leib geschneidert», sagt er. 1987 startet er beim Aargauer Tagblatt. Er schreibt über das neue Stadion des FC Aarau. «Eine Thematik, die heute noch brandaktuell ist», lacht Bingesser.
«Der grösste Bünzli, den es gibt»
Im Verlauf seiner Karriere geht er viermal zur «Aargauer Zeitung», zweimal zum «Blick» – und gründet das Fachmagazin «Sport». Für zwei Jahre arbeitet er als Chefredaktor Sport bei der «Stuttgarter Zeitung». Damals, vor bald 20 Jahren, fährt er jede Woche von Stuttgart nach Hause ins Freiamt. «Da spürte ich, wie mich die Heimat prägt und wie sehr ich hier verwurzelt bin.» Hansi Koch, ein früherer Wohler Handballer und guter Freund, nennt Bingesser «den grössten Bünzli, den es gibt».
Lange kann er nicht von zu Hause weg sein. Ausser für sportliche Grossereignisse wie Fussball-WM oder Olympische Spiele. Und natürlich für besondere Geschichten. In Jamaika besuchte er 2002 für das Sportmagazin die vier Bobfahrer, die 1988 in Calgary für Aufsehen sorgten. Auch bekannt als «Cool Runnings». Quasi nebenbei vertreibt er sich die freie Zeit bei einem Leichtathletik-Nachwuchsmeeting in Jamaika und interviewt ein junges Sprint-Talent. Sein Name: Usain Bolt. Felix Bingesser ist der erste Sportreporter, der mit dem späteren Weltstar spricht. Ein Glücksfall. Aber ein feines Gespür hatte Bingesser schon immer. Ebenfalls prägend: Sein Besuch von Sepp Pjontek Anfang der 2000er-Jahre. Pjontek war damals Trainer der Fussball-Nationalmannschaft von Grönland. «Die Meisterschaft dauerte nur einige Wochen und wir fuhren mit einem kleinen Motorboot zu den Spielen», erinnert sich Bingesser. Quer durch die Eisberge. Von beiden dieser grandiosen Geschichten gibt es keine Spuren im Internet, zu lange sind sie her.
Die Zeit knapp, der Output riesig
Es sind aber genau solche Storys, die sein Sportreporter-Herz heute noch bewegen. Aufwendige Recherchen, tief in ein Thema eintauchen, das ist in der heutigen Hektik fast nicht mehr möglich. Auch der Ausgang und der Spass kommen nicht zu kurz. «Ich holte mit minimalem Aufwand das Maximum aus den Storys.» Heute, in Zeiten der Digitalisierung, wo alles schnell gehen muss und Klick-Zahlen wichtiger sind als ein gutes Zitat, «hat sich der Beruf total gewandelt».
Die Zeit knapp, der Output riesig. Dies merkt er auch in den letzten zehn Jahren als «Blick»-Sportchef. Ist denn der Journalismus besser oder schlechter als früher? «Das kann man so nicht sagen. Der Journalismus ist einfach ganz anders geworden. Schneller, hektischer und dadurch vielleicht auch etwas oberflächlicher. Es ist ganz anders. Zugegeben, die Qualität leidet manchmal.»
Szenenwechsel. 100 Meter neben dem Buneggli ist das Zuhause der Familie Bingesser in Waltenschwil. Er sitzt auf der Terrasse. Bingesser senkt den Kopf leicht nach hinten, schlägt die Beine übereinander und hält mit seinen Händen das Knie fest. Er ist nicht nur ein guter Erzähler, er kann auch gut zuhören. Seine Frau «Gigi» setzt sich an den Tisch. Sie sind seit bald 25 Jahren verheiratet. Tochter Anna, 17 Jahre jung, kommt dazu. «Buddi» wird sie genannt. Kurzform für «Buddha». Bingessers grösster Stolz. «Wenn sie etwas will, muss sie ihn nur lieb anschauen und Papa macht es sofort», erzählt «Gigi» mit lachender Ernsthaftigkeit.
Als Pfarrer verkleidet die Eltern getraut
1967 zügeln die Eltern Bingessers vom zürcherischen Wollishofen nach Waltenschwil. Mutter Ida ist Hausfrau, Vater Sepp arbeitet sein Leben lang auf der Zürcher Sihlpost. Beide stammen aus Bauernfamilien in der Ostschweiz. Sie feierten vor Kurzem ihren 60. Hochzeitstag. Anlässlich dieser diamantenen Hochzeit gab es eine Party im Garten und Felix Bingesser hat sie als verkleideter Pfarrer erneut vermählt. Die drei Kinder Felix, Markus und Katrin leben allesamt in Waltenschwil. «Wir haben untereinander ein sehr enges Verhältnis. Das empfinde ich als grosses Privileg.»
Felix Bingesser bekam auch immer die nötige Rückendeckung für seinen Job. Beispielsweise vor zehn Jahren, als er Chefredaktor Sport beim «Blick» wird. «Das ist kein familienfreundlicher Job. Ohne meine Frau wäre dies nicht möglich gewesen. Sie hat zu Hause den Laden immer geschmissen, dafür bin ich ihr sehr dankbar.»
Ab 1. Januar 2021 wird er nicht mehr Sportchef sein. Er verlässt den bestbezahlten Job im Schweizer Sportjournalismus freiwillig. Und das nach zehn Jahren. Niemand machte diesen Job so lange wie er. Auch dies ist typisch «Bingi». Er entscheidet, wann der richtige Zeitpunkt ist. Jemand, der dies bestens weiss, ist Sandro Inguscio. Vor zehn Jahren wechselt er als Sportredaktor dieser Zeitung zum «Blick». Von Felix Bingesser wurde er immer gefördert. «Von Felix gibts keine Streicheleinheiten und tagtägliche Schulterklopfer. Anerkennung muss man sich bei ihm verdienen – und das ist gut so», erzählt der Niederwiler Inguscio. «Er weiss immer, wann er vorausmarschieren muss. Bingesser hat die richtige Mischung zwischen Mut, Bauchgefühl und Zurückhaltung.» Heute ist Inguscio der jüngste News-Chef der «Blick»-Geschichte. Nicht zuletzt dank Bingesser.
Der Waltenschwiler ist in seiner Position auch ein Meinungsmacher. Die Doppel-Adler-Diskussion an der WM 2018 wurde von Bingesser meinungsbildend geführt. So lange, bis der Schweizerische Fussballverband über die Bücher ging und seine Organisation anpasste. Auch die Revolution im Schweizer Club-Fussball wurde von Bingesser und dem «Blick» massgeblich geprägt. Der Hype im Schwingsport ist der Berichterstattung des «Blick» teilweise zuzuschreiben. Bingesser wollte auf den Schwingsport setzen. Und tat dies. Nach dem Fussball und dem Skifahren ist dies heute seine Lieblingssportart. «Ich liebe diese Ambiance an den Schwingfesten. Unkompliziert, respektvoll, toll.»
Der tote Fisch im Briefkasten
Da drückt sie einmal mehr durch. Seine enorme Leidenschaft zum Sport. Er selbst bezeichnet sich als Sportnews-Junkie und sagt: «Sport ist eine Therapie mit Glückshormonen. Es gibt so viele Emotionen, so viel Begeisterungsfähigkeit. Der Sport ist eine Lebensschule und die beste Integrationsmöglichkeit in einer immer multikulturelleren Gesellschaft. Wenn man im Teamsport einmal Seite an Seite für einen Sieg kämpft, dann ist man für immer verbunden.»
Sein Job hat ihm viele wunderbare Momente beschert. Als Beispiel nennt er die Interviews mit Roger Federer, zuletzt in der Lenzerheide. «Wenn man nur schon sieht, wie nett er mit dem Kellner umgeht, dann ist dieser Mensch schon eindrücklich.»
Doch es gibt in seiner Karriere auch viele Anfeindungen. Besonders in den letzten zehn Jahren beim «Blick» ist Bingesser oft der Sündenbock. Briefliche Drohungen, böse Telefonate, hitzige Gespräche. «Ich konnte immer besänftigen. Auch, weil ich immer mit offenem Visier kämpfte und kein Heckenschütze war. Wenn man den Leuten den Boulevard-Journalismus erklärt, stösst man auf Verständnis.» Mit vielen Fussballtrainern und Verbandsbossen schliesst er nach kritischen Geschichten immer wieder Frieden. Ausser mit dem aktuellen Nati-Trainer Vladimir Petkovic. «Diese Beziehung ist nach wie vor angespannt», erzählt Bingesser. Und man spürt, das wurmt ihn. «Man sollte Streitereien immer klären.»
Die wohl prägendste Anfeindung geschieht im Jahr 2011. Der «Blick» fährt eine Kampagne gegen den «Pyro-Trottel», ein FCZ-Fan, der durch eine Petarde verletzt wurde. Eines Tages wurden in Waltenschwil Plakate aufgehängt mit dem Bild von Bingesser und der Überschrift: «Wer kennt diesen Mörder?» Im Briefkasten der Bingessers lag ein toter Fisch. «Das hat alles überstiegen, was ich bisher erlebt habe.»
Spätestens in einigen Monaten wird er sich durch seine Kommentare im «Blick» nicht mehr ganz so stark exponieren. Dann bleibt noch mehr Zeit für sein Privatleben. Die braucht er auch. Denn Bingesser ist ein enorm geselliger Typ. Das zeigt sich im Fakt, dass das Gespräch mit ihm über drei Stunden dauert. Jassen, Ausflüge mit dem Töff, Freunde treffen. Und Spazierengehen. Jeden Tag, wie er sagt, von seinem Zuhause entlang der Bünz manchmal bis ins Murimoos. «Nach zwei Stunden laufen regeln sich viele Sorgen und Probleme von alleine.»
«Ich will jetzt das Hamsterrad verlassen»
Da denkt er viel nach. Über den Job, die Familie, das Leben. Was wäre denn eine Schlagzeile, die sein Leben beschreiben würde? «Felix bedeutet der Glückliche. Und ich würde sagen, ich hatte und habe ein sehr glückliches Leben.» Bereut er etwas? «Nein», sagt er klar. «Man bereut nur Dinge, die man nicht getan hat. Und ich habe immer alle Chancen ergriffen, die sich mir geboten haben.»
Heute arbeitet er oft in einem kleinen Büro in Wohlen. Fernab der Hektik des Newsrooms in Zürich. Dies wird er noch bis zum 1. Januar 2021 tun, bevor er kürzertritt und beim «Blick» in anderen Funktionen tätig sein wird.
Der Entscheid, genau jetzt als «Blick»-Sportchef abzutreten, wurde durch die bedrohliche medizinische Diagnose verstärkt. «Manchmal kann es im Leben schnell gehen und alles ist anders. Ich will jetzt das Hamsterrad der grossen beruflichen Belastung verlassen und mehr Zeit haben.» Die gute Nachricht: Die bedrohliche Diagnose hat sich nicht bestätigt. «Ich bin meinen Eltern für vieles dankbar. Auch für den Vornamen. Er scheint ein gutes Omen zu sein.»