Carmen Bärtschi, wohnt in Zürich, vormals in Wohlen und Bremgarten.
Ich lese gerade Miranda Julys Buch «Auf allen vieren». Und ganz ehrlich: Dieses Buch trifft mich. Es ist so unverschämt direkt, dass ich manchmal ...
Carmen Bärtschi, wohnt in Zürich, vormals in Wohlen und Bremgarten.
Ich lese gerade Miranda Julys Buch «Auf allen vieren». Und ganz ehrlich: Dieses Buch trifft mich. Es ist so unverschämt direkt, dass ich manchmal erröte, obwohl ich allein auf dem Sofa sitze. Wie die Protagonistin stecke ich in einer verwirrenden Zwischenphase, die weder ganz jung noch endgültig alt ist. Perimenopause nennt sich dies – das Vorspiel der kommenden Hormon-Oper. Ich bin also noch nicht mittendrin, aber mein Körper testet schon mal die Nebelmaschine.
In meinem Alltag als Psychotherapeutin fühlt sich dies bildlich gesprochen in etwa so an: Ich stehe gemeinsam mit meinen pubertierenden Patientinnen und Patienten in einem dunklen, völlig vernebelten Discoraum. Zwischendurch blitzt das Strobo – und erhellt den Raum für eine Millisekunde. Kurze Geistesklarheit. Dann wieder dunkel. Gemeinsam suchen wir den Ausgang, stolpern Richtung klare Nacht, während Hormone und Stimmungsschwankungen die Sicht vernebeln. Einmal ruft die innere Stimme: «Ich will alles, sofort.» Kurz darauf: «Ach, ist doch egal.» Zu Hause dann meine Tochter. Sie poltert augenrollend durch die Wohnung, die Zimmertür knallt. Zwei (fast) Pubertierende unter einem Dach: Sie am Anfang, ich irgendwo zwischen Alt und Neu. Wenn sie wütend losschreit, möchte ich auch schreien. Pädagogisch natürlich fragwürdig – hormonell betrachtet: völlig folgerichtig.
Das Gute: Ich verstehe ihre Verwirrung. Und die meiner Patientinnen und Patienten gleich mit. Diese Mischung aus Flucht und Sehnsucht, Rebellion und Bedürftigkeit. Nur dass ich nicht mehr heimlich auf Partys schleiche, sondern nachts wach liege und überlege, ob ich zur Entspannung lieber Steuerunterlagen lesen sollte statt Julys Midlife-Dramedy. Spoiler: Ich entscheide mich fürs Drama. Öl ins Feuer! July beschreibt diese unbeholfene Körperlichkeit, das Irrationale im Intimen. Da erkenne ich mich. Mein Liebesleben fühlt sich gleichzeitig vertraut und neu an – wie ein Tanz, den ich längst kann, den ich aber extra falsch tanze, nur um zu sehen, was passiert. Vielleicht ist das die Pointe der zweiten Pubertät: dass man das Chaos nicht länger bekämpft, sondern annimmt. Oder, um Nietzsche zu zitieren: «Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.»