Dunkles Kapitel

  01.12.2020 Muri

Film «Hexenkinder» im Kino Mansarde in Muri

Regisseur Edwin Beeler und MarieLies Birchler geben Einblicke in einen dunklen Teil der Schweizer Geschichte.

Fünf Betroffene erzählen in dem Dokumentarfilm «Hexenkinder», wie sie ihre Kindheit zwischen Ohnmacht, gewaltsamer Abhängigkeit, dem Wunsch nach Nähe und der Suche nach der eigenen Identität erlebten. Fast wie zur Zeit des Hexenwahns wurden Kinder für die Sünden ihrer Eltern im Namen der Religion bestraft. Eine von ihnen ist MarieLies Birchler, die zusammen mit Regisseur Edwin Beeler im Anschluss an den Film über das Projekt erzählte. Es sei ein Teil der Schweizer Geschichte, den man kennen dürfe und solle, betont Edwin Beeler. --red


Die seelischen Narben bleiben

«Hexenkinder» mit Regisseur Edwin Beeler und der Betroffenen MarieLies Birchler im Kino Mansarde

Sie wurden gedemütigt, körperlich gezüchtigt und von der Gesellschaft und dem Staat vergessen: das ist das Schicksal zahlreicher Heim- und Waisenkinder, die unter der Obhut von katholischen Nonnen standen. Der Dokumentarfilm «Hexenkinder» von Edwin Beeler gibt Einblick in ein wenig bekanntes und dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte.

Celeste Blanc

Eigentlich sollten Kinder unbeschwert und lebensfreudig die Welt entdecken, sich geborgen und geliebt fühlen. Doch nicht jeder hatte das Glück, in behüteten Verhältnissen aufzuwachsen. Als junger Mensch ohne die Eltern zu sein, ist ein schwerer Schicksalsschlag. Noch schwerer wiegt er, wenn die fürsorgerischen Verantwortlichen wie die Heime oder der Staat versagen und Peiniger nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Von der Züchtigung und Peinigung durch Nonnen in katholisch geführten Kinderheimen handelt der Film von Edwin Beeler.

Fünf Betroffene erzählen, wie sie ihre Kindheit zwischen Ohnmacht, gewaltsamer Abhängigkeit, dem Wunsch nach Nähe und der Suche nach der eigenen Identität erlebten. Fast wie zur Zeit des Hexenwahns wurden Kinder für die Sünden ihrer Eltern im Namen der Religion bestraft. Eine von ihnen ist MarieLies Birchler, die zusammen mit Edwin Beeler im Anschluss an den Film über das Projekt erzählte.

Tägliche Todesangst

Mit zwei Jahren kam MarieLies Birchler zusammen mit ihrem Bruder ins ehemalige Waisenhaus in Einsiedeln. Sie war unterernährt und von den Eltern vernachlässigt und es wurde behauptet, sie müsse in einen «Kuraufenthalt». Sein Versprechen, sie wieder nach Hause zu holen, hat ihr Vater nie eingehalten. Nun stand sie in der Obhut der «Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz Ingenbohl». Die heute 70-Jährige erinnert sich zurück: «Ich hatte jeden Tag Todesangst.» Mitten in der Nacht nämlich rissen die Nonnen das kleine Mädchen aus dem Schlaf, um sie in der Waschküche «zu dünkeln, bis sie keine Luft mehr bekam». Und das immer und immer wieder. Es folgten Schläge mit dem Teppichklopfer. «Ich wurde unter anderem bestraft, weil ich das Bett nässte», so Birchler. Ein Teufelskreis, denn den ganzen Tag hatte sie Horror vor dem Zubettgehen. Doch nicht nur körperliche Züchtigung gehörte zum Alltag, auch seelische Gewalt erfuhr Birchler im Kleinkindalter. Minderwertigkeit wurde ihr eingetrichtert und die Nonnen sagten ihr, sie sei vom Teufel besessen. Sie wurde deshalb immer wieder mit Lourdes-Wasser bespritzt, damit der Teufel aus ihr herausfahre. «Sie sagten es mir so lange, bis ich es schliesslich selber glaubte», so Birchler.

Für die Sünden der Eltern büssen

Gegenüber den Anwesenden im Kino meint sie: «Ich war tatsächlich ein Hexenkind. Da ich selbst Formen von Teufelsaustreibung erlebt habe, hat mich deshalb der Titel des Filmes sofort angesprochen.» Da Heimkinder als besonders gefährdet und anfällig für Sitten- und Gottlosigkeit galten, sollten ebendiese durch körperliche Züchtigung und Schmerz gottespflichtig werden. Ein Grundsatz, der auch bei den anderen Protagonisten Annemarie Iten-Kälin, Pedro Raas, Willy Mischler und Sergio Devecchi zum Tragen kam. Iten-Kälin wurde von den Heimkindern ausgelacht und von den Nonnen abgewiesen, weil ihr Vater Suizid beging. «Er beging eine Todessünde, das war unentschuldbar», so die Betroffene. Auch in den Akten von Devecchi, der zuerst in Pura TI und danach in einem Heim in Zizers GR lebte, steht heute noch, dass er ein «illegaler Sohn» sei, weil er aus einer unehelichen Liaison hervorging. Die Kinder wurden somit für die «Sünden» ihrer Eltern bestraft. Die Bestrafungen reichten bei allen Protagonisten von Schlägen mit dem Teppichklopfer, von Prügel von mehreren Nonnen gleichzeitig bis hin zum «Duschen und Dünklen», was heute der Foltermethode Water-Boarding gleichkommt.

Keine Identität

Auch erzählen die Betroffenen, dass jegliche individuelle Entfaltung unterdrückt wurde. Für die Heime, bei späteren Versetzungen und für den Staat galt nur, was in den sogenannten «Zöglingsakten» stand, eine Art zweite Biografie, die nichts mit dem realen Menschen zu tun hatte. So wurde bei Birchler im Alter von sieben Jahren in ihren Akten vermerkt, dass sie «sittlich verwahrlost» sei. Diese Zöglingsakten stigmatisierten Heimkinder als unerzogen und unbelehrbar und rechtfertigten die schlechte Behandlung. Für Birchler ein wesentlicher Grund, weshalb die Betroffenen lange geschwiegen haben: «Man hat immer diese tiefsitzende schlimme Angst, erneut stigmatisiert zu werden.» Lange hatten die Kinder keine eigene Identität. Viele können ihre Akten auch nicht mehr einsehen. So auch Sergio Devecchi nicht, dessen Akten durch die «Stiftung Gott hilft» aus «Datenschutzgründen» zerstört wurden.

Der Film als wichtiges Zeitdokument

Das Erzählte geht tief unter die Haut. Umso eindrücklicher ist es, wie sich die fünf Protagonisten nach dem Erlebten zurück ins Leben kämpften. Heute sind sie erfolgreich in ihren Jobs, sind Künstler, Unternehmer oder haben sich als Sozialpädagogen und Betreuer für Kinder eingesetzt. Dennoch bleiben die seelischen Narben. Für Birchler ist der Film ein wichtiges Zeitdokument: «Viele Opfer können heute noch nicht darüber sprechen, aus Scham oder weil sie traumatisiert sind.»

Dass endlich die Betroffenen zu Wort kommen, denen während der gesamten Kindheit das Wort verweigert wurde, war für Regisseur Beeler eine Herzensangelegenheit. Er verrät: «Die Geschichten haben mich sehr berührt. Emotionale Momente gab es vor allem immer wieder beim Schneiden des Filmes, als ich alleine mit den Aufnahmen war.»

Es sei ein Teil der Schweizer Geschichte, den man kennen dürfe und solle. Denn noch heute glauben nicht alle die Geschichten von Betroffenen. So wird Annemarie Iten-Kälin in Einsiedeln noch heute als Lügnerin bezeichnet.

Kinder brauchen Grenzen

Dass sie nun offen über ihre Kindheit vor den Anwesenden sprechen kann, war für MarieLies Birchler kein einfacher Weg. Sie war depressiv und suizidal, hat sogar einen Suizidversuch hinter sich: «Doch ich habe meine ganze Kraft aufgewendet, um gesund zu werden. Heute noch staune ich, dass ich das überlebt habe.» Menschliche Nähe habe sie erstmals mit 18 Jahren erfahren, als ihre Betreuerin in ihrem vierten Heim sich ihrer wirklich annahm. «Das war eine sehr wichtige Erfahrung, denn ich kannte es nicht, dass man mir gut gesinnt sein wollte. Ich musste lernen, Vertrauen in andere Menschen zu haben», erzählt Birchler dem Publikum. Heute kann sie mit ihrer Kindheit leben und betreut mit voller Leidenschaft Kinder. In Zusammenhang mit ihrer Vergangenheit hat sie lediglich einen Wunsch. Kein Kind soll mehr solche Qualen leiden: «Die Gesellschaft soll aufmerksam sein und sich einsetzen. Kinder brauchen definitiv Grenzen, aber keinen Missbrauch.»


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