Ein Alltag in voller Konzentration
27.09.2024 Region Oberfreiamt, AuwWenn ein Sinn verschwindet
Edith Sidler über den Verlust ihres Sehvermögens
Zur jüngsten Veranstaltung im Rahmen der Reihe «Frauen berichten ...» füllte sich der Saal der Alten Kanzlei in Auw.
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Wenn ein Sinn verschwindet
Edith Sidler über den Verlust ihres Sehvermögens
Zur jüngsten Veranstaltung im Rahmen der Reihe «Frauen berichten ...» füllte sich der Saal der Alten Kanzlei in Auw.
Vor einem Jahr hat Maya Troxler vom Frauenverein Auw bei Edith Sidler-Betschart vorsondiert, ob sie sich vorstellen könnte, über ihr Leben als Erblindende zu referieren. «Sie hat sofort zugesagt», erinnert sie sich. Und mit der Powerfrau, die in Mühlau aufgewachsen und mittlerweile in Hagendorn zu Hause ist, hat der Frauenverein einen Nerv getroffen: Rund 80 Interessierte kamen in die Alte Kanzlei, um ihren Worten zu lauschen und sich von ihrer Stärke und Lebensfreude beeindrucken zu lassen. --tst
Edith Sidler-Betschart hat ihr Augenlicht fast vollständig verloren
Seit ihrer Kindheit nimmt ihre Sehfähigkeit kontinuierlich ab. Darüber berichtete Edith Sidler, die in Mühlau aufgewachsen ist, in der Alten Kanzlei, Auw. Dabei beeindruckte sie ihr Publikum mit Elan und Lebensfreude.
Thomas Stöckli
«Leben mit der Dunkelheit», hat der Frauenverein Auw den jüngsten Anlass in der Reihe «Frauen berichten …» betitelt. «Ich sehe nicht einfach Schwarz», präzisiert Referentin Edith Sidler-Betschart: «Die Brillenträger können es sich so vorstellen, wie wenn sie einen Raum betreten und die Gläser beschlagen.» Sie könne ihr Publikum schemenhaft erkennen, «ihr könntet aber ebenso gut auch Schafe sein.» Das wäre dann allerdings eine grosse Herde: Rund 80 Interessierte drängten sich in der Alten Kanzlei in Auw.
Nebel und Röhrenblick
Um dem Publikum einen Eindruck zu geben, wie sie die Welt visuell wahrnimmt, hat Edith Sidler Simulationsbrillen mitgebracht. Diese lässt sie im Doppelpack durch die Reihen gehen. Die eine Brille verschleiert den Blick gemäss dem beschriebenen «Nebel». Die andere schränkt darüber hinaus das Sichtfeld ein. Dieser Röhrenblick ist nämlich ein weiterer Aspekt der Sehschwäche der Referentin. Ihre Sehleistung beschränkt sich auf gerade mal zwei Prozent. Ihr drei Jahre älterer Bruder Oskar ist bereits in der Pubertät vollständig erblindet.
Retinitis Pigmentosa lautet bei ihnen beiden die Diagnose. Aufgrund eines Gendefekts verlieren die Zellen der Netzhaut dabei zunehmend ihre Funktion. Schon in der Kindheit sei das aufgefallen, berichtet die Referentin, die mit vier Geschwistern auf einem Bauernhof im Schoren, Mühlau, aufgewachsen ist und mittlerweile in Hagendorn lebt. So sei ihr Bruder oft gestolpert und habe deutlich länger gebraucht, kleine Dinge aufzuklauben als seine jüngeren Geschwister. Trotzdem reichte die Sehstärke noch aus, um mit dem Velo in den Kindergarten zu fahren. «Damals sah ich noch etwa 30 bis 40 Prozent», sagt Edith Sidler.
Fleiss und Lebensfreude
Die Schule besuchten beide dann im «Sonnenberg», Baar, das damalige «Blinden-Institut». Die Förderung und Bildung von sehgeschädigten Kindern und Jugendlichen ist dort nach wie vor ein Thema, heute kümmert sich das Heilpädagogische Schul- und Beratungszentrum allerdings auch um die Bedürfnisse von Heranwachsenden mit Entwicklungs- und Sprachbeeinträchtigungen. Das spezialisierte Umfeld im «Sonnenberg» beschreibt Edith Sidler als Erleichterung. Ihre Sehfähigkeit nahm trotzdem weiter ab. Rund 30 Prozent waren es nach den neun Schuljahren noch. Das reichte noch, um Zeitung lesen und alles relativ selbstständig zu erledigen.
In der KV-Lehre mit Berufsmatur kam die Mühlauerin dann wieder mit Sehenden zusammen. «Das hat mich angespornt», verrät sie. Mit viel Fleiss meisterte sie die Herausforderung und liess sich zur Personalfachfrau ausbilden. Dabei habe die Sehschwäche in ihrem Beruf durchaus auch Vorteile gehabt: «Ich konnte mich auf den Charakter konzentrieren, ohne durch Äusserlichkeiten wie Tattoos oder lange Haare beeinflusst zu werden.» Die Lesearbeit erleichterte ihr ein Scanner mit Vorlese-Software.
Grosser Familienwunsch
Dass sich ihre Sehfähigkeit weiter verschlechtern würde, war Edith Sidler klar. Entsprechend nutzte sie die Zeit, ging viel in den Ausgang und bereiste die Welt. 2011 kam sie mit ihrem heutigen Mann Magnus zusammen. 2015 erblickte der erste gemeinsame Sohn das Licht der Welt, 2017 folgte der zweite. Dass die Hormonumstellung einer Schwangerschaft ihre Sehfähigkeit nochmals stark verschlechtern würde, sei ihr bewusst gewesen, «aber der Familienwunsch war zu gross», sagt sie. Und zudem habe sie gewusst, dass sie früher oder später einmal sowieso nichts mehr sehen würde. Da ihre Form des Gendefekts rezessiv ist, also nur auftritt, wenn die Kinder das entsprechende Gen von beiden Elternteilen mitbekommen, haben die Buben die Retinitis Pigmentosa nicht geerbt.
Noch rund fünf bis zehn Prozent Sehleistung blieben Edith Sidler nach den Schwangerschaften, in den folgenden Jahren nahm der Wert weiter ab, auf mittlerweile noch zwei Prozent. «Ich bin fast blind», so die Referentin. Dass die Krankheit dereinst geheilt werden könnte, besteht langfristig Hoffnung, «für mich und Oskar eher nicht mehr», schätzt sie ein. «Ich werde meine Kinder nie im Erwachsenenalter sehen. Ich werde nie mehr mein Spiegelbild sehen, nie mehr jemandem in die Augen blicken können.» Auch wenn sich im zwischenmenschlichen Kontakt vieles über die Stimme erfassen lasse, so fehlen doch die visuellen Eindrücke, um eine Stimmung zu erkennen. «Ich weiss nicht, ob ihr mir zuhört, ob ihr schlaft oder ob jemand weint», veranschaulicht sie.
Für Edith Sidler war klar, dass sie sich aufs Muttersein konzentrieren will. Den Haushalt führt sie weitgehend selbst. Die IV finanziert ihr Assistenzpersonen, etwa für den Einkauf und fürs Putzen. «Kochen, aufräumen und organisieren kann ich selber», betont sie. Insbesondere das Kochen und Backen sind ihr wichtig. Beim Dosieren hilft eine sprechende Waage, die Edith Sidler dem Publikum vorführt. Die grossen Zahlen am Drehschalter des Herds könne sie noch erkennen. Beim Backofen weiss sie, um wie viele Stufen sie bis zur gewünschten Einstellung drehen muss.
«Ganz viel basiert auf Konzentration, auf Denken und auf Merken», sagt die Referentin. «Man macht alles bewusst, stellt die Gewürze an den gleichen Ort zurück. Das erfordert wahnsinnig viel Konzentration. Und das ermüdet.»
Genuss und Selbstbestimmung
Zugverbindungen kann Edith Sidler mittels Vorlesefunktion auf dem Smartphone suchen, ihre Armbanduhr lässt sich aufklappen, damit sie die Zeiger erfühlen kann. In vielen Bereichen ist sie allerdings auf Unterstützung ihrer Mitmenschen angewiesen: «Wenn ich hier bin und aufs WC muss, muss ich jemanden fragen», veranschaulicht sie. Wenn sie alleine zu Fuss irgendwo hinwill, muss sie den Weg erst mit einem Mobilitätstrainer einüben, um sich an Randsteinen und anderen Hilfsmitteln orientieren zu können. «Ich bin wahnsinnig gerne selbstständig», sagt sie. Gleichzeitig weiss sie die Leute in ihrem Umfeld zu schätzen, auf die sie sich verlassen kann. Sei es beim Joggen, mit Verbindungsschnur, oder beim Skifahren. «Das ist für mich ein Gefühl von Freiheit.»
Generell hilft ihr ihre kommunikative Art. «Ich kann nur durch Reden mit den Leuten in Kontakt treten.» Wenn sie mit dem Jodlerclub auf Ausflüge geht, hört man sie entsprechend viel. «Ich kann weder rausschauen, noch etwas lesen, darum konzentriere ich mich darauf», erklärt sie und lacht. Überhaupt lacht sie viel, an diesem Abend in Auw. Es sei ihr auch wichtig, aufzuzeigen, wie sie ihr Leben geniessen könne, betont sie, die aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnimmt, im Jodlerclub singt und im Schwyzerörgeli-Trio musiziert. Nebst den Herausforderungen, die das Erblinden mit sich bringt, geht es denn auch immer wieder um die Schönheit des Lebens. Das beeindruckt auch das Publikum im Saal: «Ich habe die grösste Hochachtung, wie du dein Leben meisterst», meldet ihr eine Bekannte zurück.
Das Lebensbejahende steht auch bei den Referaten von Edith Sidler an der Schule im Fokus. Und es wird ein wichtiges Thema sein in ihrem Podcast «imblindpunkt», den sie diesen Winter gemeinsam mit einer 60-Jährigen Kollegin aus Luzern startet, die bereits erblindet ist. Gemeinsam wollen sie sowohl Betroffenen Hilfestellung bieten, als auch das Verständnis bei Sehenden erhöhen.


