Ein besonderes Kinderparadies
25.07.2025 BremgartenSommerserie «Weisch no»: Heinz Koch über das Aufwachsen in der Unterstadt
An einem Ort ihrer Wahl lassen wir Einheimische in Erinnerungen schwelgen. Der 89-jährige Ur-Bremgarter Heinz Koch hat sich für den Schwarzschlossbrunnen im Kirchenbezirk ...
Sommerserie «Weisch no»: Heinz Koch über das Aufwachsen in der Unterstadt
An einem Ort ihrer Wahl lassen wir Einheimische in Erinnerungen schwelgen. Der 89-jährige Ur-Bremgarter Heinz Koch hat sich für den Schwarzschlossbrunnen im Kirchenbezirk entschieden.
Marco Huwyler
Ein Duftgemisch aus saurem Most, Sauerkraut und Fisch liegt in der Luft. Männer und Frauen waschen Seite an Seite ihre Fässer und Kleider – oder nehmen einen der Fische aus, die hier, frisch gefangen von der Reuss, im Brunnen die letzten Momente ihres Lebens verbrachten. Ein halbes Dutzend Katzen wartet geduldig, bis wieder eines der Eingeweide in ihre Richtung fliegt und sie sich gierig darauf stürzen. Derweil rattert ein Zweigespann vorbei und lässt dabei die trockene Erde aufwirbeln, sodass man die Augen zusammenkneifen muss, bis sich der Staub wieder gelegt hat. Die Kinder ärgern sich lautstark, dass es mitten durch ihr begonnenes Murmelspiel fuhr, doch es dauert nicht lange, da haben sie dieses lachend wieder aufgenommen – wie schon so oft. Es ist ein Gemisch aus Treffsicherheit und Verhandlungstalent, das hier gefragt ist. Murmeln kann man gewinnen oder tauschen. Für eine der bunten Glaskugeln muss man mindestens 10 derjenigen aus Lehm hergeben, die oft selbst angefertigt und bemalt sind.
Freche Streiche und Gefahr von oben
Der Brunnen in der Unterstadt ist ihr Treffpunkt, jeden Tag aufs Neue. Es sind Dutzende Kinder, die hier zusammenfinden. Alle sind sie Nachbarn und kennen sich bestens. Denn jedes Haus in der Schenkgasse beherbergt drei bis acht von ihnen – die Familien sind gross. Genauso wie die Anzahl möglicher Gspändli, deren Ideen und Spielmöglichkeiten. «In der Schenkgasse aufzuwachsen, war wirklich ein Geschenk», lächelt Heinz Koch. «Es war ein besonderes Kinderparadies hier.» Auch acht Jahrzehnte später erinnert er sich an kleine Details. Wie es manchmal nach Ammoniak roch, wenn bei der Metzgerei Stierli – damals noch in der Schenkgasse beheimatet – eine Kühlung defekt war. Wie die frechen Buben den Hausfrauen Streiche spielten und Dreckkügelchen in die Pfannen auf dem Herd warfen, die durchs offene Fenster der Küche erreichbar waren. Wie im Winter regelmässig das Holz des Ortsbürgerwaldes in die Dachstühle der Altstadthäuser gezogen wurde – Unfallgefahr inklusive. «Es gab den Spruch, dass man kein rechter Schenkgässler sei, ohne dass einem einmal ein runtergefallenes Scheit ein Loch im Kopf verpasste», schmunzelt Koch.
Die Bremgarter Unterstadt war in seinen Erinnerungen eine verschworene Gemeinschaft. «Wie ein eigenes Dorf in der Gemeinde.» In die Oberstadt ging man selten, als Kind im Vorschulalter praktisch nie. «Denn wir hatten hier unten alles, was wir brauchten.» Bis zu sechs Lebensmittelläden etwa. Kleine Familienbetriebe. «Am Morgen wurden die Fensterläden runtergeklappt und dienten als Ladentheke.» Erst im Schulalter mussten die Kinder zwangsläufig hoch in die Oberstadt, weil dort die Schule beheimatet war. «Wir bei uns unten hatten dafür den Kindergarten.» So durchmischten sich die Kinder, wobei auch klassenintern oft eine unsichtbare Schranke da war. «Das Unter- von Unterstadt bedeutete auch ein bisschen unterprivilegiert.» Die von «oben» hatten etwa echtes Spielzeug – so was gab es «unten» nur sehr selten. «Aber das machte gar nichts, denn wir hatten ja unsere Schenkgasse», lächelt Koch.
Zu den Freunden und der Grossmama
Der Ur-Bremgarter ist ein begnadeter Erzähler. In all den Jahren als Primarlehrer, Theaterschaffender und Stadtführer, die auf seine Unterstadt-Kindheit später folgen sollten, hat er die Fähigkeit perfektioniert. Es ist verblüffend, in welchem Detailreichtum er von Dingen zu berichten vermag, die viele Jahrzehnte zurückliegen. Und wie gut er sich auch mit 89 Jahren noch an Jahrzahlen, Namen und Zusammenhänge erinnert. Was ihm am meisten geblieben ist, ist aber ein Lebensgefühl, das sich nur schwer in Worte fassen lässt. «Ein Gefühl von Gemeinschaft, Solidarität und Zugehörigkeit, das ich in dieser Intensität später nirgends sonst mehr erlebte», wie er sagt. Als Koch in die Schule kam, ist seine Familie umgezogen. In die Oberstadt. «Doch zum Spielen ging ich fast jeden Tag wieder die Kirchenstiege hinab.» Angezogen von seinen vielen Freunden, mit denen er aufgewachsen ist und die «unten» geblieben sind. Aber auch von seiner Grossmutter, die immer noch dort lebte. «Ich habe sie geliebt. Und sie hat mich sehr geprägt», erzählt Koch. Vieles, was er als Lokalhistoriker später zum Besten geben sollte, habe er auch aus ihren Erzählungen. «Ich ging oft zu ihr, einfach, um zuzuhören», sagt Koch. «Sie kannte so viele spannende Geschichten von früher.» Und Grossmama Adelina Meienberg hatte am selben Tag Geburtstag wie Heinz, am 15. Dezember. «Das hat mich mit ihr zusätzlich verbunden», lächelt er.
Cabaret, Geschichte und Heimatliebe
Heute ist Koch selbst ein alter Mann. Und ein verdienter und allseits geschätzter Bremgarter. Gleich zweimal hat er den selten verliehenen Ducrey-Stifterpreis erhalten, mit dem in Bremgarten nur die verdientesten Pädagogen gewürdigt werden. Zu seinem 80. Geburtstag wurde ihm zusammen mit Frau Annalise die Ehrenbürgerschaft verliehen. Engagiert hat er sich oft und vielerorts in seiner Heimatstadt. In die Politik, wie später seine Tochter Karin und heute seine Enkelin Jacqueline, zog es ihn aber nie. «Obwohl mich mal jemand für den Stadtrat vorschlug», wie er schmunzelt. Koch hat abgewinkt, während sein vermeintlicher Gegenkandidat bereits schwitzte. Doch der Kampf gegen Windmühlen im Rathaus wäre nicht der seine gewesen. «Ich durfte auch so genug bewirken – mehr als wohl jemals vom Stadtrat aus», sagt er. «Politisiert habe ich via mein Cabaret.» Hier im «Brämestich» glossierte er so manche Lokalposse zum grossen Vergnügen der Einheimischen.
Kochs anderes Steckenpferd war die Lokalhistorie. Als Gründer der Stadtführergruppe und Mitgründer des Stadtmuseums half er, die historischen Bremgarter Gegebenheiten und Erinnerungsschätze für die Nachwelt zu bewahren, spannend aufzubereiten und so zu erzählen, dass sie haften bleiben. Weg aus Bremgarten zog es ihn nie. «Warum auch? Wir haben es hier so schön», sagt Koch. Nach spätestens drei Wochen habe er jeweils Entzugserscheinungen. «Dann vermisse ich den Duft der Reuss, den Anblick der Altstadt und die Glocken des Spittelturms.»
Verbindungen fürs Leben
Heute wohnt Koch im Itenhard-Quartier. Doch wie früher zu Schulzeiten zieht es ihn nach wie vor oft und gerne in den Kirchenbezirk. Und sei es nur, um in Erinnerungen zu schwelgen. Wenngleich heute vieles auch besser sei als früher («man muss sich nur mal die Wohnsituation im Vergleich zu meiner Kindheit vor Augen halten») – manchmal wünscht sich Koch in die Unterstadt seiner Kindheit zurück. «Diese Bremgarter Beschaulichkeit, Harmonie und Nähe untereinander.» Eine Atmosphäre, die Verbindungen schuf, die ein Leben lang geblieben sind. «Das sah man schön jeweils am Schenkgassen-Fest respektive Unterstadt-Plausch, den Armando Caravetta veranstaltete», erzählt Koch. Längst Weggezogene sahen sich wieder, weil sie zu diesem Anlass gerne wieder hierherkamen – und für einen Moment wähnte man sich Jahrzehnte zurückversetzt. Leider ist der herzensgute Veranstalter vor rund zwei Jahren bekanntlich verstorben.
Der Verkehr kam und ging wieder
Heute sitzt Koch hier, auf dem Bänkli neben dem Schwarzschlossbrunnen – dessen Name auf das angrenzende Pfaffenhaus zurückgeht. Irgendwann, auch schon viele Jahrzehnte zurück, waren die Naturstrassen durch Pflastersteine ersetzt worden. Der Brunnen wurde, als noch Lastwagen der Utz und anderer Betriebe mitten durch den Kirchenbezirk bretterten, verkehrsbedingt gedreht und verschoben. Einer der beiden Troge verschwand. Der andere wurde ersetzt. «Wobei der Brunnenstock von 1569 stets erhalten blieb», wie Koch weiss. Die Riegel der Riegelhäuser der Schenkgasse – früher verputzt – wurden wieder sichtbar gemacht. Die historische Unterstadt grösstenteils verkehrsbefreit.
Viel hat sich gewandelt. Oft sind es Änderungen, die zu ihrer Zeit gewiss nicht verkehrt waren. Und auch wenn das Leben in der Schenkgasse kein Vergleich mehr ist zu früher – kaum noch Kinder hier spielen, keine Lebensmittel mehr verkauft werden, keine Pferde mehr durch die Gassen traben und keine Fische mehr im Brunnen schwimmen –, mutet der Unterstadt-Geist immer noch positiv an. Velos klappern über die Pflastersteine, man schlendert, geniesst den Sommer, kennt und grüsst sich mit einem Lächeln. «Wir müssen gut darauf achten, dass dies so bleibt», sagt Heinz Koch. «Dem Erbe der Altstadt muss Sorge getragen werden.» Das gelte für Bauten und Menschen gleichermassen. «Es ist eine grosse Verantwortung, deren sich das Bremgarten von heute bewusst sein muss.»
«Weisch no»
In der diesjährigen Sommerserie «Weisch no» treffen sich Redaktorinnen und Redaktoren mit Menschen, die fast das ganze Leben in «ihrer» Gemeinde verbracht haben. Wir sprechen mit ihnen über die Ortschaft, ihre Erinnerungen und die Veränderungen im Vergleich zu heute.