Ein stiller Ort voller Leben

  08.12.2020 Muri

Der Pflegifriedhof in Muri im Wandel der Zeit

Einst eine würdevolle Ruhestätte für die, die am Rande der Gesellschaft lebten. Heute eine idyllische Parkanlage.

Über 2500 Seelen fanden in den Jahren 1916 bis 1980 auf dem Areal ihre letzte Ruhe. Die schlichten Holzkreuze, die dicht an dicht in Reihen standen, gibt es nicht mehr. Auch heute noch strahlt der Ort eine besondere Atmosphäre aus. Die alten Bäume, die grosszügige Rasenfläche und die Ruhebänke laden zum Verweilen ein. Auch Mütter mit ihren Kindern kann man dort antreffen. «Solange der Ort in Ehren gehalten wird, spricht nichts dagegen», so Thomas Wernli, Direktor der Pflegimuri. --sus


Der Friedhof der Ärmsten

Die Geschichte des Pflegifriedhofs: Ein Ort der Ruhe, mit Leben erfüllt

Von 1916 bis 1980 fanden auf dem Friedhof der Pflegimuri über 2500 Seelen ihre letzte Ruhestätte. Nach der Auflösung der Gräber ist dort heute nur mehr das Familiengrab der Wernlis zu finden. Aber immer noch strahlt der Ort eine ausgesprochen würdevolle Ruhe aus.

Susanne Schild

Das von einer Hecke abgeschirmte Gelände an der Spitalstrasse mit seinen alten schattigen Bäumen geriet mehr und mehr in Vergessenheit. In diesem Sommer rückte der Ort durch «The Beiz» wieder ins Licht der Öffentlichkeit. Der idyllische Erholungsraum im Herzen von Muri wurde zwar für Hochzeitsapéros, Yogastunden oder Karfreitagsnächte vorher schon genutzt, doch an seine Geschichte und die der Seelen, die sich unter dem Rasen befinden, erinnern sich nur mehr wenige.

Bis 2005 erinnerten die einheitlichen, schlichten Holzkreuze die Menschen daran, dass hier die Bewohner des aargauischen Kranken- und Pflegeheimes, früher «Pfleglinge» genannt, ihre letzte Ruhe fanden. Sie lebten am Rande der Bevölkerung, waren Obdachlose oder Alkoholiker. Jeder hatte ein schwieriges Leben hinter sich. «Die Geschichte des Pflegifriedhofs spiegelt die Verhältnisse der damaligen Zeit wider», streicht Thomas Wernli, Direktor der Pflegimuri, heraus. «Es war der Friedhof der Ärmsten», ergänzt Agatha Wernli, ehemalige Direktorin des Pflegeheims Muri.

Der Gemeindefriedhof sollte entlastet werden

Es war eine harte Zeit während des ersten Weltkrieges. 1914, kurz nach Kriegsausbruch, trat der Gemeinderat von Muri an die damalige «Pfleganstalt» mit der Anfrage heran, zur Entlastung des Gemeindefriedhofs einen eigenen Friedhof zu errichten. «Dazu musste aber Land erworben werden», so Thomas Wernli. Durch die Unterstützung des Gemeinderats konnten dann in der «Bleiche» zwei Grundstücke von rund vier Jucharten erworben werden. Drei Jucharten wurden für den Gemüseanbau verwendet. In den Kriegsjahren waren Nahrungsmittel knapp, dank dem Grundstückerwerb konnte man sich nun zwar mehr schlecht als recht selbst verpflegen. Auf dem Rest der Parzelle wurde der Anstaltsfriedhof errichtet. Am 14. Juni 1916 fand der erste «Pflegling» dort seine letzte Ruhe. Bis 1980 wurden hier insgesamt 2516 Menschen begraben.

Klein, aber dennoch würdevoll

Zur damaligen Zeit war Josef Stierli der Leichenfuhrmann von Muri. In einem kleinen schwarzen Büchlein führte er ab 1937 über jede Bestattung im «Kreis Tal», zu dem die Gemeinden Aristau, Althäusern, Geltwil, Isenbern, Buttwil und Muri gehörten, Buch. Von seinem Vater hatte er den elterlichen Hof übernommen, als Leichenfuhrmann verdiente er sich ein kleines Zubrot. 15 Franken erhielt er jeweils für eine Fahrt. Diese wurden dann mit der Gemeinde am Ende des Jahres abgerechnet. Die Fahrten für die Verstorbenen der Pflegeanstalt kosteten das Gleiche, wurden aber mit der Anstalt abgerechnet. Im Besitz von Josef Stierli waren immer zwei Pferde. Mindestens eines davon musste schwarz sein. «Mein Vater legte grossen Wert auf eine würdevolle letzte Fahrt. Dabei machte er keinen Unterschied, ob es sich um ein Gemeindemitglied oder einen ‹Pflegling› handelte», erinnert sich sein Sohn Andreas Stierli zurück. «Die beiden Leichenwagen waren zwar im Besitz der Gemeinde, standen aber bei uns auf dem Hof. Sie waren immer blitzblank geputzt.» Die Beerdigungen der Pflegi seien immer um 11 Uhr, die auf dem Friedhof der Kirche um 9.30 Uhr gewesen, so Andreas Stierli. Da die «Pfleglinge» oft nirgendwo richtig verwurzelt waren, oft keine Angehörigen hatten oder nur solche, die sich nicht um sie kümmerten, fiel das «Leichenzügli» dementsprechend klein aus. Die Beerdigungsgesellschaft bestand meistens nur aus dem Pfarrer, begleitet von den Sargträgern in schwarzen Umhängen, vielleicht ein paar «Pflegi»-Insassen und der eine oder andere «Pflegi»-Angestellte. «Es waren kleine Leichenzügli, aber weil mit der kleinen Glocke des Klosters geläutet wurde, wusste immer ganz Muri, dass ein Pflegi-Bewohner beerdigt wurde», erinnert sich Agatha Wernli zurück. Bestattet wurden die Verstorbenen der «Pflegi» überkonfessionell.

Alle sind gleichwertig

Jeder Verstorbene erhielt das gleiche Holzkreuz. «Es wurde sicherlich nicht nur aus reinen Kostengründen ein Einheitskreuz gewählt. Vielmehr sollte damit zum Ausdruck gebracht werden, dass alle gleichwertig sind», ist Thomas Wernli überzeugt. Eine Ausnahme bildet das Familiengrab der Wernlis, das bis heute noch in dem Park zu finden ist. Hier ist das Kreuz etwas grösser, aber genauso bescheiden aus Holz. Das Familiengrab ist zurückhaltend, so als wollte es ausdrücken, dass der Tod auch Unterschiede zwischen dem Direktor und seinen «Pfleglingen» egalisiert.

Nach 1975 nahmen die Beerdigungen immer mehr ab. «Die Zeiten änderten sich. Die Pflegi Muri entwickelte sich immer mehr weg von einer Versorgungsanstalt hin zu einer Krankenpflegeinstitution», so Thomas Wernli. Das Bedürfnis nach dieser Form von Bestattung habe mehr und mehr abgenommen. Zudem wurden auf dem Pflegifriedhof nur Erdbestattungen vorgenommen. Deshalb habe das in die Jahre gekommene Entwässerungssystem saniert werden müssen. Daher wurden die Kreuze bis auf das auf dem Familiengrab der Wernlis entfernt und es wurde Rasen angesät. Ruhebänke wurden aufgestellt und der frühere Abdankungsraum und das Gerätehaus renoviert.

Ein kleiner idyllischer Park entstand. «Das wird vermutlich auch so bleiben, denn obwohl heute die innere Verdichtung propagiert wird, ist das Land in der Bauzone ausgezont und zählt zur Landwirtschaftszone», mutmasst Thomas Wernli. Den Ort so zu belassen wie er ist, sei auch ein Anliegen des Vereins Pflegimuri. «Man darf den Friedhof über die Pietätsgrenze hinaus spüren, solange der nötige Respekt für seine Geschichte vorhanden ist. Man sollte nicht vergessen, dass unter dem Rasen immer noch ein grosses Grab ist.»


Image Title

1/10

Möchten Sie weiterlesen?

Ja. Ich bin Abonnent.

Haben Sie noch kein Konto? Registrieren Sie sich hier

Ja. Ich benötige ein Abo.

Abo Angebote