Eine Branche im Würgegriff

  18.09.2020 Wirtschaft

Die Reisebüros im Freiamt erleiden extrem hohe Umsatzeinbussen – der Blick in die Zukunft besteht aus Ungewissheit

Zuerst Lockdown und geschlossene Grenzen. Und jetzt Reisewarnungen und Länderlisten mit Quarantänepiicht. Die Coronapandemie hat die Tourismusbranche sehr schwer getroffen. Traditionsunternehmen stehen mit dem Rücken zur Wand.

André Widmer

«Wir machen es ja gerne. Und erhalten auch Dankbarkeit dafür», sagt Corinne Senn, Filialleiterin von Knecht Reisen in Wohlen. Gemeint sind die Arbeiten für ihre Kunden, die Reisebüromitarbeiter trotz der derzeitigen verheerenden Lage in der Reisebürobranche noch tätigen können. Neben einigen Neubuchungen kommt es derzeit in erster Linie zu Umbuchungen oder aber zu Stornierungen. Schwer zu schaffen machen gemäss Corinne Senn insbesondere die wechselnden Listen von Ländern mit Quarantänepflicht.

Eine Umfrage bei den im Freiamt ansässigen Reisebüros zeigt: Die Einbrüche beim Umsatz betragen 80 bis nahezu 100 Prozent. Die Wohler Filiale von Knecht Reisen mit ihren vier Angestellten und einer Lernenden trägt der aktuellen Situation damit Rechnung, dass es limitierte Öffnungszeiten gibt. Zu tun haben die Angestellten genug: Auskünfte und wie erwähnt Buchungen, Umbuchungen und Stornierungen fallen trotzdem an. «Durch die allgemeine Verunsicherung sowie die Unvorhersehbarkeit des weiteren Verlaufs der Pandemie fehlt Konsumentinnen und Konsumenten das Vertrauen. Dieses Vertrauen ist normalerweise eine wichtige Grundlage dafür, dass Buchungen platziert werden», so die Pressestelle von Knecht Reisen.

Mieterlass für zwei Monate

Seit 35 Jahren ist Orion Reisen (Bremgarten) auf dem Markt. Geschäftsleiterin Pia Därendinger erklärt: «Covid-19 hat die Reisewelt komplett auf den Kopf gestellt. Seit dem Lockdown haben wir Einbussen von nahezu 100 Prozent.» Alle Mitarbeiter seien auf Kurzarbeit gesetzt, nur Därendinger und die Buchhaltung seien vor Ort. «Die Öffnungszeiten im Migros-Center mussten wir anpassen, damit ich das Geschäft alleine führen kann.» Erschwerend seien vor allem die Grundkosten wie Miete, Löhne, Sozialleistungen, erklärt die Chefin. «Es wurden uns bei der Miete nur einmalig zwei Monatsmieten erlassen.» Der Blick in die Zukunft besteht aus zu vielen Unbekannten, lässt Pia Därendinger verlauten. Auch wenn es im nächsten Jahr aufwärts gehen würde, werde dies wohl nur langsam geschehen und die anfallenden Kosten nicht abdecken. Die Kunden seien zu Recht verunsichert, dies wegen des Verhaltens von Veranstaltern und Airlines während des Lockdowns, so die Reisebüroleiterin. So haben gewisse Fluggesellschaften die Ticketkosten während Monaten nicht oder nur teilweise zurückerstattet.

Einreisesperre für Touristen

Max Wohlwend hat sich seit 1998 mit WestCanada Travel (Merenschwand) als Einmannbetrieb auf – nomen est omen – Kanada spezialisiert. Auch für ihn ist klar, dass das Jahr 2020 mit einem Defizit abgeschlossen wird. «In den letzten Monaten wurden immer mehr Reisen wegen der Einreisesperre und Quarantänemassnahmen in Kanada annulliert. Die Erwartung in die Zukunft ist offen. Die Frage ist, wann und inwiefern sich die Reisemöglichkeiten in Kanada ändern.» Derzeit ist die Einreise für Touristen noch bis Oktober verboten. Und wie sieht der Blick in die Zukunft auf das Buchungsverhalten aus? «Ist im Moment noch schwer zu sagen, da in meinem Wirkungsfeld die Buchungen für das kommende Jahr erst ab September zunehmen. Momentan würde das Jahr 2021 nicht so schlecht aussehen, da viele Kunden umgebucht haben», so Wohlwend.

«Die Situation ist sehr schlecht», äussert sich Ursula Kistler von Philomena Reisen AG in Berikon. «Die Leute sind sehr gereizt und wir sind nur noch ein Auskunftsbüro. Die Kunden buchen kurzfristig.» Die beschränkt sich insbesondere auf Rückerstattungen, Versicherungsfälle, Kunden umbuchen und beruhigen. «Alles ohne etwas zu verdienen. Es kommen keine Buchungen herein. Jeden Tag gilt etwas anderes mit den Einreisebestimmungen», so Kistler weiter. «Es wird noch Monate dauern, bis sich das Ganze beruhigt und wir wieder etwas weniges verdienen können.»

«Arbeit ohne Einkommen»

In den letzten Jahren hat der Kreuzfahrttourismus geboomt. Zu Beginn der Coronapandemie aber kamen Virusausbrüche auf Kreuzfahrtschiffen gross in den Medien. Cruise & Ferry Center mit Sitz in Merenschwand ist Spezialist für Fährreisen und Mini-Kreuzfahrten. Bei Inhaberin Rebecca Giger arbeiten vier Fachpersonen. Die Lage in ihrem Segment? «Soll ich darauf ehrlich antworten? Katastrophal. Wir beraten Kunden, haben viele Telefonate und E-Mails, aber kaum Buchungen, da alle abwarten. Die Ungewissheit, wie lange dieser Coronavirus noch andauern wird, ist momentan die grösste Herausforderung», so Giger.

Länderöffnungen und -schliessungen, teilweise wiederholt, das macht die Ausgangslage extrem volatil. «Und genau diese Ungewissheit macht es momentan sehr schwierig, sich an irgendeiner Zukunftsplanung zu orientieren. Die Kunden warten ab. Immerhin können wir dem Kunden eine gewisse Sicherheit geben, da wir uns auch bei Schliessung einer Fährverbindung um die Buchung kümmern, was oft für den Endkunden ohne persönlichen Kontakt zur Fährgesellschaft kaum möglich ist. Für uns heisst dies Arbeit ohne Einkommen.» Kurzarbeit und ein internes Sparprogramm sind die Massnahmen. «Auch sind wir alle relevanten Partner angegangen und konnten teilweise aufgrund der prekären Situation auch Goodwill seitens Leistungsträger erfahren. Dafür sind wir sehr dankbar», erläutert Giger. Zuversichtlich stimmen sie immerhin die Nachhaltigkeit und der Trend zum Reisen im PW und Camper – gut für Fährbetriebe. «Nur, wenn alle Länder im Norden und Süden Europas geschlossen werden, wird auch keiner eine Fährreise bei uns buchen. Hoffen wir gemeinsam auf ein Ende dieser Situation, denn längerfristig ohne jegliche Einnahmen zu operieren, heisst irgendwann einmal kein Überleben. Noch sind wir positiv gestimmt.»

TUI betreibt in Bremgarten eine Filiale. Bianca Schmidt, Direktorin Marketing und Communications, erklärt, dass TUI ein Umsatzminus von 80 Prozent hinnehmen musste. Die Teams in den Filialen seien stark in Kurzarbeit und entsprechend seien die Filialöffnungszeiten angepasst worden. «Das Buchungsverhalten unserer Kunden hat sich stark geändert. Sehr viele Kunden buchen extrem kurzfristig und entscheiden sich nur gut zwei Wochen vor Abreise für eine Destination, wo früher gut vier bis fünf Monate vor Abreise ein Ferienziel gewählt wurde», so Schmidt.

26 Jahre immer proltabel

Daniel Riner ist mit EuroShuttle/Bedarfs-Luftverkehrs Muri AG ein Universalanbieter seit 26 Jahren. «In all dieser Zeit waren wir immer profitabel.» 2020 war die Firma mit ihren fünf Mitarbeitern auf einem guten Niveau unterwegs. Bis im Februar. Dann der Rückschlag. «Von den bis dahin gebuchten Reisen mussten bis heute 40 Prozent annulliert werden», erläutert Riner. Bis Ende 2020 geht auch er von einem Umsatzeinbruch um 80 Prozent aus. «Trotz Kurzarbeit für das Personal bleiben zirka 30 Prozent unserer Fixkosten bestehen. Diese werden nun seit sechs Monaten aus den Reserven gedeckt.»

Sorgen bereitet Daniel Riner, dass die Situation nicht nur auf dieses Jahr beschränkt sein dürfte. Doch er richtet den Blick nach vorne. «Da wir überzeugt sind, dass das Reisegeschäft in Zukunft – 2022/2023 – wieder massiv anziehen wird, möchten wir unsere sehr gut qualifizierten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unter allen Umständen behalten.» Dies sei jedoch nur möglich, wenn Reisebüros als anerkannte Härtefallbranche vom Bund finanzielle Hilfeleistungen an die Fixkosten erhalten. «Ansonsten werden wir nicht um einen Stellenabbau herumkommen. Da dies die ganze Branche gleichermassen betrifft, droht kurz- und mittelfristig der Verlust von mehreren Tausend Arbeitsplätzen», warnt Daniel Riner.


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