Eine eigene Dynamik entwickelt
01.12.2020 BremgartenSt. Benedikt: Pilotprojekt «Familienarbeit Leaving Care 3+» ist gut gestartet
Das ambulante Angebot am Augraben 10 ist als Ergänzung und Erweiterung von «St. Benedikt leben und lernen» für den ganzen Kanton Aargau gedacht. In der täglichen Arbeit ist die Dienstleistung schon ziemlich autonom unterwegs.
André Widmer
Die geografische Distanz zur institutionellen Einrichtung der stationären Sonderschule in Hermetschwil-Staffeln ist bewusst gewollt. Die Räumlichkeiten des Pilotprojekts «Familienarbeit Leaving Care 3+» von «St. Benedikt lernen und leben» befinden sich in Bremgarten in der neuen Überbauung «Am Ufer». Und insbesondere der Slogan «Raus aus dem Heim – hinein ins Leben» auf dem Flyer für das Zielpublikum zeigt es: Es ist ein Angebot, das eine gewisse Autonomie ausstrahlt.
Für die fachliche Unterstützung der Klientel sorgen Barbara Käppeli und Monika Jenni. Eine erste Bilanz nach einigen Monaten Betrieb fällt positiv aus. So beim Angebot Leaving Care, wo mittlerweile sechs junge Erwachsene mitmachen. Bei diesem Angebot geht es in erster Linie darum, den jungen Menschen, die ihre Kindheit einst im Kinderheim verbracht haben, den Übergang in das Leben «draussen» zu erleichtern. Hier hat sich aber indes bereits eine gewisse Eigendynamik gezeigt, sodass dieses Angebot nicht nur für ehemalige Heimbewohner, sondern auch für junge Menschen hilfreich sein kann, die sich beispielsweise aus dem Verhältnis einer Pflegefamilie oder eines Beistandes ins eigenständige Erwachsenenleben lösen.
In vermittelnder Rolle
Bestenfalls übernimmt die Begleitung eine Person oder ein junger Erwachsener, der diese Erfahrung selber gemacht hat. Es findet also auf Basis des Angebotes Leaving Care bestenfalls eine Vernetzung mit anderen Jugendlichen statt. Es könnten sich theoretisch auch Personen als Care Leaver berufen fühlen, die über 40 seien, wie dies zum Beispiel bei einem Angebot in Basel der Fall sei, schildert Monika Jenni. Die Fachpersonen Barbara Käppeli und Monika Jenni verstehen sich eher in einer vermittelnden Position, drängen niemandem ihre Expertise auf. Und: «Bei uns ist der Auftraggeber der junge Mensch», erklärt Monika Jenni. Gemäss Barbara Käppeli ist das Angebot auch in der Arbeit mit den Jungen sehr flexibel angelaufen. Es nden nicht nur physische Treffen statt, sondern der Austausch läuft auch digital – so über Whatsapp. Dort können sich die Kontaktsuchenden rund um die Uhr melden – den Betreuerinnen ist es dann selbst überlassen, ob sie gleich oder etwas später reagieren. «Ein Mädchen hinterliess jeweils Sprachnachrichten.» Treffen wiederum können auch am Lieblingsort der Jugendlichen stattfinden, es muss nicht zwingend im Büro von Leaving Care sein. Mit dieser Art des Angebotes erreicht man die Niederschwelligkeit, die mit Leaving Care angepeilt wird. Zudem ist man geschult darin, etwaige Krisen zu erkennen. Die Care Leaver arbeiten zudem gemeinsam an einem Filmprojekt und helfen bei der Gestaltung einer neuen Website. Die Eigendynamik von Leaving Care zeigt sich auch darin, dass zwei der sechs beteiligten jungen Menschen gar keine Vergangenheit im St. Benedikt haben. Bei einem Treffen mit anderen Institutionen und dem Kanton wurde zudem Interesse an diesem Projekt signalisiert, sodass es zumindest in der weiteren Region eine Art Pionierrolle einnimmt.
Begleiten, nicht werten
Im Bereich des zweiten Standbeines des Projektes, der Familienarbeit, hat die Coronapandemie sogar zu einer Art Vorwärtsschub geführt. Denn etliche Jugendliche aus dem St. Benedikt begaben sich im Lockdown im Frühling nach Hause. Auch hier verfolgt man einen ähnlichen Ansatz wie bei Leaving Care, lässt Monika Jenni verstehen. Das heisst, man unterstützt, wo erwünscht. Und das auf Augenhöhe. «Wir sind nicht in einer bevormundenden Rolle», so Jenni. Und Barbara Käppeli sagt: «Die Eltern sind der Auftraggeber. Sie sind die Experten ihrer eigenen Lebenssituation.» Bei Eltern, die beispielsweise ihr Kind nicht mehr im Heim haben wollen, ergäben sich viele Fragen. Als Fachperson könne man einen anderen Blickwinkel anbieten. Doch: «Als Beraterin muss ich nicht werten.» Das Angebot der Familienarbeit umfasst Beratung und Coaching. Die Hilfe bei einer Platzierung des Kindes, aber auch bei der Rückkehr sind wichtige Aspekte in diesem Bereich.
Perspektive Case Management
Barbara Käppeli und Monika Jenni haben in der laufenden Projektphase bereits bemerkt, dass ein Teil des Bedürfnisses in Richtung Case Management läuft. Wenn beispielsweise Reibungen zwischen Elternteilen und Beiständen bestünden. Würde ein Case Management das Angebot der losen Begleitung des jetzigen Pilotprojektes nicht torpedieren? Nein, lassen die Verantwortlichen verstehen. «Das eine schliesst das andere nicht aus», so Barbara Käppeli. Es stehe und falle mit der Transparenz. Ein positives Zeichen war bereits, dass sich die Jugendanwaltschaft bezüglich Familienarbeit gemeldet habe für eine allfällige Begleitung einer Familie – falls diese einwilligt und eine Zusammenarbeit mit dem Jugendlichen im Rahmen des Leaving Care entstehen könnte. So eine Kooperation wäre ein Novum.