Einfacher Bäcker – nur anders
16.07.2024 Region Oberfreiamt, SinsLeben als Onlinebäcker
Sommerserie Influencer: Marcel Paa, Sins
Sein Youtube-Kanal hat über eine Viertelmillion Abonnenten. Sein Berliner-Video haben über eine Million Leute angeklickt. Längst hat Marcel Paa, der gelernte ...
Leben als Onlinebäcker
Sommerserie Influencer: Marcel Paa, Sins
Sein Youtube-Kanal hat über eine Viertelmillion Abonnenten. Sein Berliner-Video haben über eine Million Leute angeklickt. Längst hat Marcel Paa, der gelernte Bäcker-Konditor, seinen Platz in der Backstube gegen jenen vor der Kamera getauscht. Der Sinser bezeichnet sich nicht als Influencer, sondern als Onlinebäcker. Der Familienvater spricht über seinen beruflichen Alltag, über die Vorteile, die seine besondere Tätigkeit mit sich bringt, aber auch darüber, dass er die Backstube manchmal vermisst. --ake
Sommerserie Influencer: Marcel Paa aus Sins begeistert mit seinen Back-Videos
285 000 Leute folgen ihm auf Youtube und schauen Woche für Woche seine Back-Videos. Der Sinser Marcel Paa ist aber mehr als ein Influencer. «Die sozialen Medien nutze ich für Reichweite», sagt er. Er hat das Geschäftsmodell weiterentwickelt, schreibt Bücher, verkauft Backutensilien und führt ein kleines Unternehmen.
Annemarie Keusch
Johannisbeer-Käsekuchen-Schnecken. Oder Anleitungen, wie Sauerteig herzustellen und anzusetzen ist. Und natürlich ganz viele Brote. Vom Knoblauch-Käse-Kräuterbrot bis zum Vollkorn-Baguette. Jede Woche kommen auf seinem Youtube-Kanal neue Videos dazu. «Probleme damit, neue Rezepte zu entwickeln, hatte ich nie», sagt Marcel Paa. Er sei permanent inspiriert. Paa holt Ideen aus Büchern, von Kanälen in den sozialen Medien, von seinen Zuschauerinnen und Zuschauern. Vor allem aber probiert er ganz vieles aus. Er entwickelt Rezepte weiter, passt sie an. Er knetet, formt, verziert. Wie ein normaler Bäcker eben. Und das ist Marcel Paa eigentlich auch.
Aufgewachsen in Interlaken als Bäckersohn, war sein Weg vorgespurt. Das Kreative gefalle ihm am Beruf. Dass mit den Händen etwas geformt wird, was anderen Freude macht. Auch nach der Lehre macht Marcel Paa viele Weiterbildungen. Seit letztem Jahr gehört er zu den wenigen Brot-Sommeliers im Land. Ins Freiamt kam er der Liebe wegen. Seine Frau und deren Familie führen den Crea-Beck in Sins. Dort arbeitete auch Paa, als er 2015 erstmals die Idee hatte, mit Videos Einblick in den Backstuben-Alltag zu gewähren.
Keller zu Büros umgebaut
Seither ist viel passiert. 285 000 Abonnenten hat sein Youtube-Kanal. Marcel Paa hat daraus ein Unternehmen entwickelt. Ein sechsköpfiges Team steht dahinter. Das Familien-Einfamilienhaus ist zugleich Produktions- und Firmenort. Im kleinen Raum hinter dem einstigen Schaufenster zeichnet Paa Videos auf, der Keller ist zu Büroräumlichkeiten umgebaut. «Es läuft gut», sagt er stolz. Zugeflogen ist ihm dieser Erfolg aber nicht.
Paa hat 2015 mit Torten-Videos gestartet. «Im Nachhinein fast peinlich, vor allem, was die Qualität der Beiträge betrifft», sagt er lachend. Nach zwei Wochen folgten ihm 15 Leute. «Zehn davon kannte ich.» Aber ans Aufgeben dachte er nie, er holte sich Tipps und blieb dran. Die Abonnentenzahl wuchs langsam, bis sie 2019 förmlich explodierte. «Die Pandemie war ein riesiger Treiber dafür. Die Leute sassen zu Hause, buken Bananenbrot, setzten Sauerteige an.» Das war der Moment, in dem ihn seine Frau motivierte, doch alles auf diese Karte zu setzen. Die Bäckerei gab die nötige Sicherheit. Paa hats gewagt. Und er hat gewonnen.
Vermisst Alltag in Backstube
Dass aus dem einstigen Bäckerlehrling ein Influencer mit 285 000 Abonnenten werden würde, das hätte er nie gedacht. «Wobei ich mich nicht als Influencer bezeichne, ich hasse dieses Wort, weil es so stark negativ behaftet ist.» Vielmehr sagt Paa, er sei ein Onlinebäcker. «Das suggeriert auch nicht, dass ich nicht für mein Geld arbeiten muss.» Zwar für Bäckerverhältnisse spät, aber Paas Tag beginnt um 5 Uhr. Er kontrolliert täglich, dass sich unter seinen Beiträgen auf verschiedensten Plattformen keine unpassenden Kommentare ansammeln. Der Morgen gilt zudem den Videos. Der Nachmittag anderen Projekten, Anlässen, Meetings, etwa mit Partnern. «Der Erfolg bringt viel Schönes mit sich», sagt Paa. Er meint die Abwechslung, er meint die Möglichkeiten. Mehrere Bücher hat er schon geschrieben, aktuell ist «1 Teig, 5 Brote» in Arbeit. Schon nächstes Jahr folgt das nächste. Er meint aber auch den Bekanntheitsgrad. «Ich werde erkannt auf der Strasse. Leute kommen in die Bäckerei wegen mir, sie wollen Bilder machen.»
Trotz all dem Schönen sagt der Familienvater: «Ich vermisse den Alltag der Backstube.» Den Stress, die grossen Mengen. Denn mittlerweile operiert er mit einem normalen Haushaltsofen. «Die Zuschauer müssen die Rezepte schliesslich zu Hause umsetzen können.» Genau das vermutet Paa als ausschlaggebend für seinen Erfolg. «Zudem sind meine Rezepte gelingsicher. Weil ich wirklich gelernter Bäcker-Konditor bin, vertrauen mir die Leute auch.» Und Paa geht auf direktes Feedback ein. Er setzt Wünsche der Zuschauerinnen und Zuschauer um. «Auch wenn ich erfolgreich bin, bleibe ich nahbar. Ich bin vor der Kamera genau gleich, wie ich dahinter bin.»
Nicht nur auf soziale Medien setzen
Youtube ist der Hauptkanal des Onlinebäckers. Aber auf Instagram erreicht er 91 000 Menschen, auf Facebook 114 800. «Dafür werden die Videos eigens anders geschnitten. Nur noch Youtube funktioniert mit dem Querformat», sagt Paa. Ein kleiner Einblick in die aufwendige Arbeit, die hinter seinen Beiträgen steckt: Die ganze Lichtund Kameratechnik lässt den kleinen Raum, in dem die Videos gedreht werden, noch kleiner wirken. Aufwand scheut Marcel Paa keinen. Und trotzdem ist es ihm wichtig, nicht zu hundert Prozent abhängig von den sozialen Medien zu sein. «Das ist, wie wenn ich ein Haus auf fremdem Grund gebaut hätte. Sperrt Youtube aus irgendeinem Grund meinen Kanal, wäre ich aufgeschmissen.» Oder eben genau nicht. Er nutze die sozialen Medien für die Reichweite. Weiteres folgt auf seiner eigenen Homepage, samt Shop für Backzubehör, samt Büchern.
Dennoch, welche Ziele verfolgt er als Onlinebäcker? «Natürlich, wachsen ist schön. Das passiert auch stetig, zum Glück.» Paa hat die halbe Million als Fernziel vor Augen. Er sagt aber auch: «Lieber sind es weniger, die dafür dabei sind und dafür sorgen, dass mein Geschäftsmodell aufgeht.» Pläne, den Kanal in anderen Sprachen zu füttern, um noch viel mehr Leute zu erreichen, hat er aktuell keine. «Sollte die künstliche Intelligenz so gut sein, dass meine Videos übersetzt werden könnten, ist das vielleicht wieder ein Thema.» Und auch sein Privatleben will er in seinem Kanal nicht gross thematisieren. «Aber ja, das Familienfoto zu Weihnachten ist oft das Bild mit den meisten Likes.»
Berliner ist der Renner
Welche Rezepte kommen besonders gut an? Paa erwähnt den Berliner, der auf Youtube über eine Million Aufrufe zählt. «Aktuell läuft das Zitronen-Tiramisu gut. Das ist saisonal sehr unterschiedlich.» Nach wie vor nicht abgerissen habe das Interesse an Sauerteigbroten. Aber wieso ein Rezept viel besser ankommt als andere, das lasse sich schwer voraussagen. «Sonst würde ich nur Videos produzieren, die viral gehen.» Bringt das Druck mit sich, Inhalt zu liefern, der möglichst oft angeklickt wird? «Für mich nicht. Eben, an Ideen mangelt es nie.» Und Paa hat bewusst den Weg gewählt, nicht nur von sozialen Medien abhängig und eigentlich kein Influencer zu sein.
Sommerserie Influencer
Influencer sind Personen, die in den sozialen Medien (Instagram, Facebook, Tiktok usw.) eine grosse Reichweite haben. Der Begriff «Influencer» kommt vom englischen Verb «to influence» (zu Deutsch: beeinflussen). Viele Influencer nutzen ihren Bekanntheitsgrad, um Informationen zu verbreiten oder um Unternehmen zu bewerben, zum Beispiel als Marken- oder Produktbotschafter. Einige können davon leben. Auch die Region Freiamt hat einige spannende Influencer. In dieser Sommerserie porträtiert die Redaktion diese Menschen und erzählt ihre Geschichte. --red