Es brennt unter den Nägeln

  29.11.2024 Sport

Das Higlight in der Blüte

Daphne Gauschi an der Handball-EM

Drei Freiämterinnen im Nati-Team vor der Handball-EM im eigenen Land. Die erst 17-jährige Wohlerin Seraina Kuratli und die 19-jährige Widerin Nora Snedkerud sind noch am Anfang ihrer Karrieren. Die Murianerin Daphne Gautschi steckt mittendrin in ihrer Karriere-Blüte, spielt seit Jahren als Profi im Ausland und ist in der A-Nati eine Leistungsträgerin. Die aktuell zweitbeste Skorerin der höchsten französischen Liga spricht vor dem ersten EM-Spiel der Schweizerinnen (heute Freitag, 18 Uhr, Live SRF) über die Heimat und die Nervosität vor dem Grossanlass. --spr


Handball, Frauen-Nati, Heim-EM: Leistungsträgerin Daphne Gautschi aus Muri steht vor ihrem Karriere-Höhepunkt

An Daphne Gautschi ist vieles anders. Talent, Werdegang, Charakter. Sie steckt in der Blüte ihrer Karriere und erlebt jetzt ihr wunderbares Highlight: die EM im eigenen Land. Die Rückraum-Hoheit erzählt, wieso sie ihre Heimat so sehr liebt und warum sie mit ihrer Mutter einen TikTok-Tanz machte.

Stefan Sprenger

Am Ringfinger das Matterhorn. Am Daumen das Schweizerkreuz. Daphne Gautschi zeigt ihre gemachten Fingernägel. Mit ihrem typisch unbekümmerten Lächeln sagt sie: «In Frankreich kostet das 30 Euro. Die Nagel-Designerin kam sogar zu mir nach Hause.»

Es ist Montag, 25. November, 11.20 Uhr. Die Profi-Handballerin steckt mitten in der EM-Vorbereitung mit der A-Nati – doch hat an diesem Tag frei. Im Café Stern in Muri trinkt Daphne Gautschi einen Cappuccino. Mit jedem Schluck und jedem Moment, der vorüberzieht, wächst die Vorfreude. Nur noch wenige Tage dauert es bis zum Höhepunkt, der Handball-Europameisterschaft im eigenen Land. Heute Freitag werden in der St. Jakobshalle in Basel über 5000 Zuschauer erwartet. Äusserlich deuten bei Gautschi nur die Schweiz-Nägel auf dieses Grossereignis hin, innerlich sieht es anders aus: «Nervös bin ich schon seit Längerem. Die Anspannung kommt in Wellen. Mal mehr, mal weniger.»

Schon früh ein «Wunderkind»

Vor genau sieben Jahren, Ende November 2017, macht diese Zeitung eine Geschichte mit Gautschi. «Das Wunderkind» lautet der Titel. Wenige Tage zuvor erzielte Gautschi für ihren damaligen Club Metz ein ausserordentliches Tor. Gautschi – damals 17 Jahre jung – betritt im Champions-League-Spiel das Feld, läuft unbekümmert auf die 1,90 m grossen Verteidigerinnen los und zimmert den Ball in den Winkel. 4500 Menschen jubeln. Erst wenige Tage vor diesem Einsatz trainierte sie erstmals mit dem Profi-Team. Alleine das Aufgebot war eine Überraschung. Und dann erzielt dieses grosse Talent noch ein Tor. «Unglaublich. Es war die krasseste Woche meines Lebens», sagt sie damals. Das war alles nicht normal. Einfach anders.

Doch es passte zu Daphne Gautschi. Schon als Kind war sie anders. Mit 10 Jahren startet sie ihre Handballkarriere beim TV Muri. Mit 11 Jahren (!) stieg sie mit der Murianer Frauenmannschaft von der 3. in die 2. Liga auf. Gautschi durfte nur mit einer Ausnahmebewilligung spielen. Ihr Weg kennt danach nur eine Richtung: steil nach oben. U16-Regionalauswahl, U16-Nationalteam, mehrere Schweizer-Meister-Titel in dieser Alterskategorie. Parallel spielt sie weiterhin für den TV Muri, wo ihr grosser Förderer Thomas Huber sie stets unterstützt «und auch an mich glaubte, als es niemand anders tat», wie sie erklärt. Auch die Schule richtet sie voll auf den Sport aus. Zuerst ist sie an der Bezirksschule in Muri, wechselt dann an die Sportschule, schliesslich an die Sportkanti. Mit 15 Jahren geht sie zum LK Zug. Erst in den Nachwuchs, doch schnell wird sie ins «Eis» katapultiert, in die höchste Liga des Landes geholt. Nicht normal. Einfach anders.

Zweitbeste Skorerin in Frankreich

Zug. Metz. Bietigheim. Neckarsulm. Und jetzt Plan-du-Cuques. Sie ist erst 24 Jahre jung, doch hat schon fünf Stationen als Profi-Handballerin hinter sich. Ihr Team ist in der Nähe von Marseille zu Hause. «Das Meer. Das Wetter. Die Menschen. Es gefällt mir sehr», sagt sie. Gemeinsam mit ihrem Freund Kevin Goettling, ein 35-jähriger Ex-Fussballer, mit dem sie seit fünf Jahren zusammen ist, lebt sie in Marseille und ist happy. Ihr geistiges Wohlbefinden schlägt sich auch auf ihre Leistungen aus. Gautschi ist aktuell die zweitbeste Torschützin der höchsten Liga in Frankreich. «Die Erstplatzierte hat aber viel mehr Penaltys als ich geschossen», sagt sie und muss lachen. Zudem wurde sie im April zur Spielerin des Monats und vor wenigen Tagen zur besten Rückraumspielerin der «Ligue 1» nominiert.

«Die Stimmung wird krass»

Geist und Körper – es passt, es harmoniert. Vor über zwei Jahren erlebte Gautschi das Gegenteil. In ihrer Zeit in Neckarsulm, in der Deutschen Bundesliga, fühlt sie sich aus unterschiedlichen Gründen nur mässig wohl. Ihr Geist blockiert, ihre Leistungen sind behäbig – und der Körper reagiert. Wegen einer Thrombose im Bein steckt sie kurz in Lebensgefahr, muss ins Spital, darf danach monatelang keinen Sport machen und täglich blutverdünnende Mittel spritzen. «C’est passé», meint sie. Vorbei. Vergangenheit.

Gegenwart. «Wir reden jetzt schon seit vier Jahren von dieser Heim-EM. Und jetzt geht es los. Endlich», sagt die Freiämterin. Heute Freitag startet die Schweiz gegen die Färöer Inseln. «Die Stimmung wird krass. Ich werde vor dem Spiel enorm aufgeregt sein. Und wenn es losgeht, wollen wir alles geben. Dänemark folgt am Sonntag, Kroatien am Dienstag. «Und danach hoffentlich die Hauptrunde in Wien. Davon träumen wir. Die Stimmung im Team ist richtig gut, wir halten zusammen. Früher waren wir eigentlich immer der Aussenseiter, jetzt ist die Erwartungshaltung höher. Das haben wir uns erarbeitet und ist doch schön. Wir sind auf sehr gutem Weg», sagt Gautschi und träumt von weiteren WMund EM-Teilnahmen – oder gar von den Olympischen Spielen.

Vertrauen vom neuen Trainer

Zuletzt siegten die Schweizerinnen fünf Mal in Serie. Das hat noch keine Frauen-Nati geschafft, notabene gegen Nationen, die allesamt auch an der EM dabei sind. «Druck ist da. Und das ist eine Ehre für uns. Wir sind nicht nur Sparringspartner, sondern ein Gegner, vor dem man Respekt hat.» Die unbekümmerte Gautschi mit der Rückennummer 10 ist kein junges Talent mehr im Team, sondern eine routinierte Kraft, eine Leistungsträgerin. «Ich erhalte viel Vertrauen im linken Rückraum. Ich will es mit starken Leistungen zurückgeben.» Unter dem neuen Nationaltrainer Knut Ove Joa ist das Teamgefüge einiges besser geworden als beim Ex-Trainer Martin Albertsen. Gautschi nickt – und möchte vielsagend nichts sagen.

Von Muri und Wohlen

Ihre Karriere ist nicht normal. Einfach anders. Und auch ihr Bezug zur Heimat ist nicht alltäglich – auch dank des Sports. Immer wenn Daphne Gautschi zu Hause ist (sie schläft in einem kleinen Abstellzimmer im Elternhaus), besucht sie die Handballspiele in der Bachmattenhalle. Ihre Schwester Minna spielt bei der SG Freiamt. Auch ihre Brüder Noah und Leon spielten Handball. Ebenso ihre Mutter Monica Bergamaschi – eine Wohlerin – war in den 80er-Jahren gemeinsam mit Schwester Alessandra Teil des allerersten Frauenteams des TV Wohlen überhaupt. Stichwort Wohlen. Zur grössten Freiämter Gemeinde hat Gautschi auch einen starken Bezug. Ihr Onkel Crispino Bergamaschi lebt beispielsweise in Wohlen, genauso wie ihr «Gotti» Alexandra Breitenstein, «die ich übrigens heute noch besuchen werde», sagt sie. Und zu guter Letzt pflegt sie auch zu Handball-Boss Pascal Jenny aus Wohlen einen lockeren Umgang. «Wenn wir uns sehen, reden wir ziemlich schnell über die Heimat.»

«Sogar der Verband lobte den TV Muri»

Aber wenn Wohlen und Muri zu einem imaginären Duell antreten würden, dann würde das Klosterdorf die Strohmetropole besiegen. In Muri – dem Heimatdorf ihres Vaters Heinz Gautschi – ist sie aufgewachsen, hier kennt sie alles und jeden – und der TV Muri Handball ist ihr Verein. «Sogar der Handballverband lobte den TV Muri für die Ticketkäufe vor der EM. Ich glaube, es kommen Hunderte aus Muri an die Spiele. Und das freut mich riesig.» Während Gautschi das Autogramme-Schreiben als «nicht ihre Lieblingsbeschäftigung» betitelt, freut sie sich jetzt schon auf ein allfälliges Gruppenfoto mit den Mitgliedern des TV Muri. «Das ist doch einfach megalässig und cool. Ich bin stolz auf diesen Support.»

In diesen Tagen ist Gautschi omnipräsent. Am Medientag gab sie reihenweise Interviews, ist aufgrund ihrer perfekten Französischkenntnisse auch bei Westschweizer Medien gefragt. «So viel Aufmerksamkeit, es ist aussergewöhnlich. Wir schätzen das sehr. Ich glaube, der Frauen-Handball hat an Stellenwert gewonnen. Und es ist noch nicht zu Ende. Wir wollen an der EM eine Euphorie auslösen in der Handball-Schweiz, wir wollen begeistern.» Menschen, die mit dem Sport bislang nicht viel zu tun hatten, sollen im Stadion oder vor dem TV (live auf SRF) gefesselt werden. «Wir geben alles dafür.» Und es brennt ihr jetzt schon unter den Fingernägeln.

Wo geht ihre nicht normale Karriere noch hin? Daphne Gautschi muss lächeln. Sie weiss, dass einige Clubs an ihr interessiert sind. Sie wartet jedoch bis nach der Europameisterschaft. «Das kann warten, ich habe gerade keinen Kopf dafür, es zählt nur die EM», sagt Gautschi, die in rund zwei Jahren ihr Wirtschaftsstudium beenden wird. Sicher ist: «Mein Freund Kevin kommt mit. Und ich werde immer wieder nach Muri kommen, sooft es geht, egal wo ich spiele.»

Ein TikTok-Video mit der Mutter

Daphne Gautschi hat im Café Stern in Muri den Cappuccino leer getrunken. 90 Minuten nach dem ersten Schluck ist 90 Minuten näher an der Europameisterschaft. «Ein absoluter Karrierehöhepunkt» ist es für Gautschi, die aktuell in Topform ist. Ihre Sprungkraft, ihre Übersicht, ihre Schnelligkeit, ihre harten Würfe, das alles wird den linken Rückraum der A-Nati beleben. «Wir dürfen keine Angst vor Fehlern haben. Wir müssen das Herz auf dem Platz lassen. Dann kommt das gut. Jetzt freue ich mich riesig auf die gigantische Stimmung in der Halle. Wir wollen viele positive Erinnerungen erschaffen», sagt Gautschi.

Um sich etwas vom vielen Handball abzulenken, hat sie am Montagmorgen ein Video mit ihrer Mutter gemacht. «Der Trainer sagte, wir sollen mehr Zeit mit der Familie verbringen und nicht auf Social Media. Also habe ich ein Tanzvideo gemeinsam mit meiner Mutter gemacht und ganz schnell auf Tiktok gestellt», sagt Gautschi lachend. Das Resultat ist nicht normal, einfach anders. Irgendwie wie ihre Karriere und ihr Wesen: einfach besonders.


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