Für guten Start in Arbeitswelt
22.08.2025 Muri, BildungMit ganz viel Bezug zur Praxis
Das Berufswahljahr gibt es im Aargau kaum noch – in Muri ist es eine Erfolgsgeschichte
Ein Jahr, in dem die Berufswahl im Zentrum steht: Berufswahljahr statt neuntes Schuljahr. Das gibt es im Aargau nur noch in ...
Mit ganz viel Bezug zur Praxis
Das Berufswahljahr gibt es im Aargau kaum noch – in Muri ist es eine Erfolgsgeschichte
Ein Jahr, in dem die Berufswahl im Zentrum steht: Berufswahljahr statt neuntes Schuljahr. Das gibt es im Aargau nur noch in Muri und in Rheinfelden.
Annemarie Keusch
Es ist ein kleines Beispiel. Aber eines, das zeigt, in welche Richtung das Berufswahljahr zielt. Jeden Montag und Donnerstag führt diese Klasse den Pausenkiosk im Schulhaus der Sek und Real in der Bachmatten. Lehrerin Mariza Nietlispach lächelt. «In den ersten Wochen kommen die Schülerinnen und Schüler dabei ganz schön ins Rotieren.» Sie unterrichtet die Berufswahljahr-Klasse, arbeitet mit zehn Jugendlichen aus Muri und dem ganzen Freiamt daran, ihren Einstieg ins Berufsleben einfacher zu gestalten, sie nach ihren individuellen Bedürfnissen darauf vorzubereiten. Der Pausenkiosk ist ein Beispiel, anhand dessen sie erste betriebswirtschaftliche Erfahrungen sammeln können. Überhaupt, praktische Einblicke sind in diesem Jahr nicht selten. Dabei arbeitet die Schule eng mit dem regionalen Gewerbe zusammen.
Das Berufswahljahr ist der Sekundarund Realschule angegliedert. Schulleiterin Sylvia Rodel spricht von einem Erfolgsmodell. «Die Quote der Jugendlichen, die dadurch eine Lehrstelle finden und den Einstieg ins Berufsleben schaffen, ist sehr hoch», betont sie.
Gefördert – und gefordert
Die Gründe, weshalb Schülerinnen und Schüler anstelle des neunten Schuljahrs das Berufswahljahr besuchen, sind dabei vielfältiger Natur. Einige sind erst kürzlich zugezogen und hätten es schwer, sich im letzten Schuljahr in eine Klasse zu integrieren. Andere brauchen individuelle Lernziele, um ihre Mankos in einzelnen Fächern auszugleichen – nicht selten sprachlicher Natur. Wieder andere haben keine Ahnung, welchen Weg sie beruflich einschlagen wollen. Ihnen gemein: Im Berufswahljahr werden sie gefördert – aber auch gefordert. Es sind nur noch zwei Schulen im Aargau, die ihre Ressourcen für ein Berufswahljahr einsetzen. Stufenleitern Sylvia Rodel erzählt, weshalb dem so ist.
Als nur eine von zwei Schulen im Kanton Aargau gibt es in Muri noch ein Berufswahljahr
Aktuell sind es zehn Schülerinnen und Schüler. In ganz unterschiedlichen Bereichen brauchen sie mehr Unterstützung. Bei den einen ist es die Sprache, bei den anderen die Berufswahl. Anstelle des neunten Schuljahres gibt es in Muri die Möglichkeit des Berufswahljahres. «Eine tolle Sache», findet Schulleiterin Sylvia Rodel.
Annemarie Keusch
Fragen gibt es jeweils ganz viele. Weil nicht wenige Eltern das Berufswahljahr schlicht und einfach nicht kennen. Und dann gibt es auch Vorurteile, die sich hartnäckig halten. «Das Berufswahljahr ist kein Auffangbecken für alle, die sonst den Schulabschluss nicht schaffen könnten», sagt Sylvia Rodel. Sie ist Schulleiterin der SeReal in Muri, der das Berufswahljahr angegliedert ist. Solche Fragen hört sie immer wieder. «Schülerinnen und Schüler, die sich nicht an die Regeln halten, werden auch hier nicht geduldet», sagt sie. Vielmehr sei das Berufswahljahr eine Chance für jene, die vor dem Einstieg in die Berufswelt die Erfüllung spezieller Bedürfnisse benötigen.
Dabei ist es zentral, dass die Kinder und auch deren Eltern die Partizipation am Berufswahljahr auch wollen. «Wir zwingen niemanden. Wir empfehlen, aber anmelden müssen die Eltern ihre Kinder selbst», sagt sie. Hinzu kommt ein Motivationsschreiben, selbst verfasst. «Es sind alle freiwillig hier, aber die Grundhaltung muss stimmen. Wer eine ruhige Kugel schieben will, der ist hier nicht am richtigen Ort und der findet dank dem Berufswahljahr auch kein Lehrstelle.» Das seien aber die Ausnahmen. «Ganz viele sehen dieses Jahr als Chance und sind sehr dankbar dafür.»
Zehntes Schuljahr vermeiden
Vor rund zwei Wochen ist das Berufswahljahr mit zehn Schülerinnen und Schülern gestartet. Ihre Bedürfnisse sind ganz unterschiedlich. Während die einen mehr Zeit brauchen, um sprachliche Defizite aufzuarbeiten, sind andere in der Klasse, um mehr Aufmerksamkeit der Mathematik widmen zu können. Alle haben separate und individuelle Lernziele. Und über allem steht, wie es der Name sagt, die Berufswahl. «Die Jugendlichen haben viel mehr Zeit, um zu schnuppern. Ganz viele kommen hierher, ohne auch nur den Hauch einer Idee zu haben, was aus ihnen werden will.» Bei anderen entspricht der Berufswunsch überhaupt nicht den schulischen Voraussetzungen. Gemeinsam Lösungen zu finden, das ist das Ziel dieses Jahres. Lösungen, die den beruflichen Einstieg erleichtern.
Sylvia Rodel ist überzeugt, dass das Modell des Berufswahljahres gewinnbringend und gut ist. Weil dadurch weniger Jugendliche das zehnte Schuljahr besuchen. «Dieses ist meiner Meinung nach ganz oft keine gute Lösung, weil es die Entscheidung der Berufswahl nur vertagt, aber nicht löst. Natürlich, die Jugendlichen sind sehr jung, wenn sie sich entscheiden müssen. Aber mit eine Lehre, wenn auch keine eidgenössisch zertifizierte, sondern eine zweijährige berufliche Grundbildung mit Berufsattest, können die Jugendlichen nachher etwas vorweisen», betont Sylvia Rodel. Genau darum ist sie von der Wichtigkeit des Berufswahljahres überzeugt. Auch wenn dieses Angebot im Aargau selten geworden ist.
Nicht weniger Wahlfächer und Teilungslektionen
Vor 20 Jahren war die Situation diesbezüglich eine ganz andere. In allen Regionen des Kantons gab es das Berufswahljahr. Mittlerweile sind nur Muri und Rheinfelden übrig geblieben. «Die Politik war dahingehend, dass Spezialjahre gestrichen werden und die Schule immer integrativer wird», sagt sie. Kleinklassen, Einschulungsklassen und Berufswahljahre verschwanden – nur Ersteres in Muri. «Die Schule hielt hier daran fest und beugte sich dem kantonalen Entscheid nicht», weiss Sylvia Rodel. Hugo Felber unterrichtete das Berufswahljahr hier über viele Jahre und bis zu seiner Pensionierung. Die Schule Muri investiert also weiterhin Ressourcen in dieses Angebot. «Das heisst aber nicht, dass unsere Schule deshalb auf Wahlfächer oder Teilungslektionen verzichtet.»
Das geht, weil im Berufswahljahr nicht nur Schülerinnen und Schüler aus Muri unterrichtet werden, sondern aus der gesamten Region – teilweise gar darüber hinaus. Die Schule Muri erhält Kontingente jener Schulen, von denen die Schülerinnen und Schüler das Berufswahljahr besuchen. Dennoch, das Berufswahljahr anzubieten, sei aufwendig, brauche viel Koordination – gerade auch mit anderen Schulen. Vor allem aber brauche es eine Person, die mit Herz und Fachwissen auf die Jugendlichen eingehen kann und ihnen hilft, beruflich Fuss zu fassen. «Ohne geht es nicht», betont Sylvia Rodel. Dies unterstreicht die Tatsache, dass das Berufswahljahr auch in Muri ein Jahr aussetzte. Weil nach der Pensionierung Felbers keine geeignete Lehrperson gefunden wurde.
Nur einmal ohne Lehrstelle
Nun hat Mariza Nietlispach ihr drittes Schuljahr als Lehrperson des Berufswahljahres gestartet. Sie ist Klassenlehrerin und trägt die Hauptverantwortung, die Schülerinnen und Schüler werden aber von mehreren Lehrpersonen unterrichtet. Trotzdem sagt Sylvia Rodel: «Mariza Nietlispach ist eine Idealbesetzung.» Weil sie gut auf die Jugendlichen und ihre Bedürfnisse eingehe, sie individuell abhole. Aber auch, weil sie in Muri verwurzelt und in Vereinen aktiv ist. «Ihr Netzwerk ist riesig. Gerade auch in das Gewerbe.» Und damit in potenzielle Lehrbetriebe ihrer Schülerinnen und Schüler. Dass Jugendliche dank dem Berufswahljahr eine Lehrstelle finden, ist dabei kein Wunsch, sondern ein Fakt. «In den letzten beiden Jahren klappte es nur einmal nicht. Aber wenn die Person schlichtweg nicht arbeiten will, dann wird es nun mal schwierig.» Dabei ist es Rodel aber wichtig zu betonen, dass es nicht das Ziel sei, die Jugendlichen einfach in einer Lehre unterzubringen. «Es soll für beide Seiten ein Gewinn sein, für den Lehrbetrieb und die Lernenden.»
Gleiches gilt für das Berufswahljahr. Es soll die Jugendlichen vorwärtsbringen, aber auch für den Schulbetrieb eine gute Ergänzung sein. «Deshalb haben wir in den letzten Jahren hie und da etwas angepasst», sagt Sylvia Rodel. Die Schülerinnen und Schüler sind regionaler. «Es ist einfacher, Schüler von hier in regionale Betriebe zu vermitteln als solche aus Baden oder Brugg.» Und die Schule ist konsequenter geworden. «Wenn es nicht geht, die Jugendlichen sich nicht an unsere Regeln halten, kann es auch sein, dass jemand entlassen wird.» Das sei aber selten. «Wir können wirklich sagen, dass das Berufswahljahr an unserer Schule eine Erfolgsgeschichte ist.» Und sie könne sich gut vorstellen, dass dies bald an weiteren Schulen wieder angeboten wird. «Mit der Einführung der Regionalen Sonderklassen hat der Kanton Aargau signalisiert, dass er spezielle Klassen in Zukunft wieder mehr zulassen und fördern will.»