Stefan Sprenger, Redaktor.
Ich bin im Gespräch mit einem guten Freund. Im Augenwinkel sehe ich einen älteren Herrn, der immer wieder zu mir rüberblickt. Nach ein paar Minuten hebt er seinen Zeigefinger, holt sich dadurch meine ...
Stefan Sprenger, Redaktor.
Ich bin im Gespräch mit einem guten Freund. Im Augenwinkel sehe ich einen älteren Herrn, der immer wieder zu mir rüberblickt. Nach ein paar Minuten hebt er seinen Zeigefinger, holt sich dadurch meine Aufmerksamkeit. Er wolle nicht stören, doch er müsse mir schon lange etwas sagen. Mit wässrigen Augen bedankt er sich für die Geschichte des Ehepaars Steinmann. Es habe ihm Kraft gegeben, Trost. Er spricht sogar von Hoffnung.
Es ist nur eine von ganz vielen Rückmeldungen auf diese nicht alltägliche Geschichte. «Auch der Tod scheidet sie nicht», war der Titel. 66 Jahre waren Trudy und Josef Steinmann verheiratet. Dann entschied sich das Ehepaar aus Wohlen für den gemeinsamen Freitod mit Exit. Anfang Februar wurde der Text publiziert, wenige Tage nach ihrem Tod. Es folgte eine Welle von Feedbacks. Mails, SMS, Telefonate, persönliche Wortmeldungen. So viele wie noch nie zuvor. Und bis auf eine Ausnahme waren alle positiv. Viele Menschen fühlten sich berührt, es regte zum Nachdenken an – auch über das eigene Leben und den eigenen Tod. Eine Frau schrieb, sie habe den Text gelesen und sei danach zur Arbeit gegangen. Doch sie musste wieder nach Hause, denn sie habe nur noch geheult. «Ich weiss nicht, ob ich weinte, weil ich traurig oder glücklich war», meinte sie.
Auch bei mir hallte diese Geschichte nach. Besonders ein Aspekt. Auf die Frage, was für einen Ratschlag sie jüngeren Menschen mit auf den Weg geben möchten, antworteten beide dasselbe: geniessen. «Das Leben zu geniessen, ist nicht so kompliziert. Aber viele Menschen können es nicht», meinte sie. Er sagte: «Geniesse das Leben ständig, denn du bist länger tot als lebendig.» Ich frage mich seither: Wie geniesst man richtig? Yoga und Meditation sollen helfen. Ein Bewusstseinsforscher rät, kräftig auf den Tisch zu hauen und danach den Tönen und Vibrationen zu lauschen. So schaffe man es, im Moment zu leben, im Hier und Jetzt. Ein Rezept, wie man richtig geniesst, habe ich nicht vollständig gefunden. Aber seither denke ich oftmals bei schönen Momenten an das Ehepaar Steinmann. Beim ersten Bissen eines feinen Essens oder beim fröhlichen Lachen meiner Kinder. Dann geniesse ich, so glaube ich. Und ich denke mir: «Das haben sie gemeint.»