Hilfe anbieten ist willkommen
10.01.2025 Region OberfreiamtSehbehinderung im Alltag
Podcast «imBlindpunkt» – auch für Sehende
«Retinitis pigmentosa» lautet ihre Diagnose. Diese schwere Erkrankung der Netzhaut führt früher oder später zur Erblindung. ...
Sehbehinderung im Alltag
Podcast «imBlindpunkt» – auch für Sehende
«Retinitis pigmentosa» lautet ihre Diagnose. Diese schwere Erkrankung der Netzhaut führt früher oder später zur Erblindung. Edith Sidler, die in Mühlau aufgewachsen ist, und Jacqueline Egger haben alle Stadien durchlaufen: als noch sehende, als schlecht sehende und schliesslich als blinde Frauen. In ihrem neuen Podcast «imBlindpunkt» beleuchten sie ihren Lebensalltag. Mit ihrer lebensbejahenden Art machen die beiden Frauen anderen Betroffenen Hoffnung, geben ihnen wertvolle Tipps und sensibilisieren gleichzeitig Sehende, wie diese ihnen helfen können, Hürden im Alltag abzubauen.--tst
Im Podcast «ImBlindpunkt» berichten zwei unterschiedliche Frauen, wie sie ohne Sehvermögen durchs Leben finden
Aufgewachsen ist sie in Mühlau, mittlerweile wohnt Edith Sidler im Kanton Zug – und wirkt im Luzernischen Emmen als Podcasterin. «ImBlindpunkt» dreht sich rund ums Leben mit einer Sehbehinderung und richtet sich nicht nur an Betroffene.
Thomas Stöckli
Über 1000 Leute haben die ersten beiden Folgen von «ImBlindpunkt» auf Spotify gehört. Zahlreiche weitere dürften via Website auf den Podcast zugegriffen haben. «Das ist für uns ein riesengrosser Erfolg», freut sich Edith Sidler. Gemeinsam mit Jacqueline Egger berichtet sie über den Alltag blinder und sehbehinderter Menschen. Offen und ehrlich, kritisch und doch auch mit Humor. «Der Podcast richtet sich an alle Betroffenen und möchte ausserdem den Sehenden die Augen öffnen», verraten die Sprecherinnen, die beide Retinitis pigmentosa haben, eine schwere Erkrankung der Netzhaut, die zur Erblindung führt. Jacqueline Egger sieht gar nichts mehr, Edith Sidler nimmt gerade mal noch vage Schatten wahr.
Hürden im öffentlichen Raum
In der ersten Folge haben sich die beiden Frauen vorgestellt. In der zweiten ging es um Hilfsmittel wie Führhunde oder den Weissen Stock. Letzterer sei zwar hilfreich, oute einen aber auch auf den ersten Blick als blinde Person. Wobei das nicht nur Nachteile hat, ermöglicht es dem Gegenüber doch, Verständnis aufzubringen und allenfalls auch Hilfe anzubieten. Die beiden Frauen sprechen über Hindernisse im öffentlichen Raum wie Hecken, die sich gegen oben hin ausdehnen und ihnen unvermittelt ins Gesicht klatschen, weil sie – wie übrigens auch provisorische Verkehrsschilder – mit dem Stock in Bodennähe nicht ertastbar sind. Oder über Schnee, der sich am Trottoirrand auftürmt und ihnen das Queren von Strassen verunmöglicht.
Beunruhigend nehmen sie das Piepsen rückwärtsfahrender Lastwagen wahr, mit dem unguten Gefühl, nicht zu wissen, ob sie sich im Gefahrenbereich aufhalten. «Blinde und Sehbehinderte sollen hören, dass es anderen gleich geht», nennt Edith Sidler eines der Ziele, die sie mit dem Podcast erreichen wollen. Weiter gehe es darum, zu teilen, wie sie mit bestimmten Situationen umgehen. «Das sind Informationen, die ich vor fünf Jahren selbst gerne erhalten hätte», sagt Sidler.
Auf Hilfe angewiesen
Die Podcastgespräche helfen auch Sehenden, die sonst keine Berührungspunkte mit Blinden haben, deren Situation besser zu verstehen. «Wir Blinde und Sehbehinderte können nur übers Reden in Kontakt treten», nennt Edith Sidler einen zentralen Punkt. «Wir sehen keinen Augenkontakt, kein Winken und kein Sich-Abwenden.» Entsprechend sei ein Anreden im Sinne von «Brauchen Sie Hilfe?» sehr willkommen. Hilfe anbieten, nicht aufdrängen, betont Sidler, also den eigenen Arm als Führungshilfe reichen und nicht die blinde Person packen und irgendwohin lenken. «Wenn mir jemand anbietet, im Haushalt etwas wegzuräumen, bin ich froh und dankbar», nennt sie ein anderes Beispiel. «Wenn man es aber ohne zu fragen einfach wegräumt, finde ich es nie mehr.»
Ohne Hilfe sei es ihr nicht möglich, im ÖV einen freien Platz zu finden, veranschaulicht Edith Sidler. Und es sei eine Erleichterung, 500 Meter am Arm einer Helferin oder eine Helfers gehen zu können, statt mit dem Stock alles ertasten zu müssen. «Wer Hilfe anbietet, kann nichts falsch machen», versucht die gebürtige Mühlauerin Berührungsängste abzubauen. Als weiteren wichtigen Faktor im Umgang mit Blinden und Sehbehinderten nennt sie Geduld. «Wir brauchen für alles länger als andere», sagt sie. In einer Zeit von Digitalisierung und Beschleunigung sei dies die vielleicht grösste Barriere.
Welten, die sich ergänzen
Die Lebensfreude und das Interesse an Neuem verbindet die beiden Podcasterinnen. Ansonsten ergänzen sich die Welten: Hier Jacqueline Egger mit grosser Erfahrung als Blinde im Beruf, da Edith Sidler, Mutter und Familienfrau. Als Juniorpartnerin profitiere sie sehr vom Wissensvorsprung ihrer älteren Kollegin, sagt Sidler: «Sie hat sich schon viel mehr eingerichtet, und geht sicherer mit dem Thema um.
Ihre Podcasts zeichnen die beiden Frauen in Emmen auf, wo Jacqueline Egger lebt. Die Grundsituation sei dort logistisch einfacher, so Edith Sidler: «Ich habe zwei Kinder und oft Gäste, das wäre zu unruhig.» Pro Aufnahmetag werden jeweils zwei bis vier Podcasts eingesprochen. Dazu richtet Tontechniker Urs Hellenbrandt sein mobiles Studio ein. Er ist es auch, der die Nachbearbeitung übernimmt. Möglich macht dies die finanzielle Unterstützung von Retina Suisse und privaten Spendern.
Auch so sei ihr Aufwand noch gross, verrät Edith Sidler: «Es braucht megaviel Vorbereitung. Wir können während der Aufnahme nicht einfach schnell auf unsere Notizen schauen», führt sie aus. Gerade wenn die Podcasterinnen unter sich sind, braucht es viel Energie. Etwas ringer sei es, wenn sie einen Gast haben: «Dann müssen wir nicht ständig reden», sagt sie und lacht. Für die Musik sorgt Eddy dela Luz, der selbst blind ist. «Vielleicht werden wir ihn künftig auch mal als Gesprächsgast einladen.»
Ferien als nächstes Thema
In den Podcasts verraten die Frauen viel über sich, teilen ihre Weltanschauung und plaudern frisch von der Leber weg. Trotzdem gibt es auch Tabuthemen: «Ich will nicht über meine Beziehung sprechen», stellt Edith Sidler klar, «auch wenn das ein spannendes Thema wäre. Mir ist das zu persönlich und meinem Mann wäre es ebenfalls unangenehm.»
In der nächsten Folge, die am 15. Januar erscheint, erzählt Edith Sidler stattdessen, wie sie als blinde Familienfrau ihre Ferien verbringt: Im Sommer auf dem Campingplatz, und im Winter auf der Skipisten. Diese aktive Feriengestaltung stellt immer wieder eine Herausforderung dar. Die Podcasterin schildert, wie sie sich organisiert und was ihr hilft, damit ihre Ferien entspannt und erholsam werden. In einer späteren Folge wird es dann um die Ferien von Jacqueline Egger in Australien und Neuseeland gehen. Für diese Spezialfolge treffen sich die beiden Frauen ausnahmsweise nicht physisch, um den Podcast einzusprechen, sondern auf einer Webplattform.
Positive Rückmeldungen
Später wird die Organisation im Wohnraum ein Thema sein, wie es ist, langsam zu erblinden, was das psychisch mit einem macht und wie das Umfeld reagiert. Ein weiterer Schwerpunkt werden dann Begleitpersonen sein, die sie im Alltag, in den Ferien, bei der Arbeit oder zu gesellschaftlichen Anlässen unterstützen. Zum Thema Begleitung von blinden Menschen bei sportlichen Freizeitaktivitäten laden sich die beiden Frauen Heinz Moser als Gast ein. Er berichtet aus seiner langjährigen Erfahrung, insbesondere als Wanderbegleiter.
Die Rückmeldungen zu den bisherigen Folgen seien durchweg positiv, freut sich Edith Sidler, «auch von Menschen, die sich sonst mit Kritik nicht zurückhalten.» Das macht den Podcasterinnen Mut, ihren Weg weiter zu gehen und auf ihr wichtiges Thema zu sensibilisieren.