Krisenherd Nahost – wie weiter?
15.10.2024 MuriNahostexperte Erich Gysling war zu Gast bei der Volkshochschule Oberes Freiamt
Mit dem Terroranschlag der Hamas am Samstag, 7. Oktober 2023, hat sich die Lage im Nahen Osten explosionsartig verschärft. Der Journalist und langjährige SRF-Korrespondent Erich ...
Nahostexperte Erich Gysling war zu Gast bei der Volkshochschule Oberes Freiamt
Mit dem Terroranschlag der Hamas am Samstag, 7. Oktober 2023, hat sich die Lage im Nahen Osten explosionsartig verschärft. Der Journalist und langjährige SRF-Korrespondent Erich Gysling nahm den gefährlichen Konflikt aus allen Blickwinkeln unter die Lupe.
Walter Minder
Der wortgewandte Nahost-Kenner mobilisiert am Freitagabend ein zahlreiches Publikum, das sich seinen Vortrag nicht entgehen lassen wollte. Peter Hauser, Ex-Präsident der Volkshochschule Oberes Freiamt, sagt dazu: «Wir dürfen uns immer wieder über hervorragende Referenten freuen und das ist auch heute Abend der Fall.» Und so war es denn auch: Ein Vortrag, der während gut 90 Minuten fesselte und zugleich Ängste weckte.
Einleitend beleuchtete Gysling die schwierige Lage seit der durch die UNO 1947/48 ermöglichten Gründung des Staates Israel. «Israel wurde dabei bevorzugt, auch wenn die Idee war, damit eine Heimstätte für die Juden ohne Benachteiligung der dort beheimateten Palästinenser zu schaffen.» Das viel diskutierte «2-Staaten-Konzept» ist auch aus seiner Sicht ein erfolgversprechender Ansatz, wobei die Umsetzung eine sehr grosse Herausforderung darstellt. «Dagegen kämpft die «Achse des Widerstandes», ein Netzwerk nichtstaatlicher, radikaler Gruppierungen im Irak, Iran, Jemen, Libanon und Syrien.» Der Gazastreifen ist etwa so gross wie der Kanton Schaffhausen, doch leben hier rund 2,2 Millionen Menschen, während es im Kanton Schaffhausen nur knapp 39 000 sind. «Ich bezeichne den Gaza-Streifen als offenes Gefängnis, da Israel den Zugang streng kontrolliert. So ist auch keine neutrale mediale Berichterstattung möglich.»
Der schicksalshafte 7. Oktober 2023
Dann beleuchtete er die vielen offenen Fragen rund um den Überfall der etwa 3000 Hamas-Terroristen, bei dem am 7. Oktober 2023 mehr als 1200 Menschen ermordet und mehr als 200 Geiseln entführt worden sind. «Auch wenn dieser Überfall ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist, so erfolgte er nicht im luftleeren Raum.» Und auch die Reaktion Israels sei nicht entschuldbar, sind doch seither über 42 000 Palästinenser getötet und über 90 000 verletzt worden. Welche Rolle dabei der Iran gespielt hat, der die Auslöschung Israels zum Ziel hat, sei nach wie vor Spekulation. Wichtig zu wissen ist, dass im Iran vier Anlagen für atomare Forschung bestehen, an drei Orten Uran abgebaut und in einer Anlage Schweres Wasser gewonnen wird. «Jeden Morgen um sechs Uhr prüfe ich, ob der Konflikt in der Nacht nicht explodiert ist.» Zumal ihn der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu brauche, um an der Macht zu bleiben.
Gysling machte anschliessend auf die Rolle aufmerksam, die der von Israel ins Visier genommene Libanon spielt. «Er ist für den jüdischen Staat eine ernsthafte militärische Bedrohung, die Hisbolla-Miliz soll rund 130 000 Raketen an der Grenze zu Israel stationiert haben. Aber die Frage steht im Raum: Kann sich Israel mehrere Fronten leisten?» Aktiv im Konflikt sind auch die jemenitischen Huthi-Rebellen, die mit Angriffen auf Schiffe, die mit Israel in Verbindung stehen, die Hamas im Gazastreifen unterstützen wollen. Gyslings Fazit: «Ich fürchte, dass der Konflikt noch lange dauert und gefährlich eskalieren kann, wir können nur auf eine diplomatische Lösung hoffen.»
Viele offene Fragen – auch für den Experten
In der abschliessenden Fragerunde wollte ein Zuhörer wissen, wie sich die bevorstehenden Wahlen in den USA auf den Nahost-Konflikt auswirken werden. «Wird Harris gewählt, erwarte ich eine Weiterführung der bisherigen Situation, das heisst, verbale Mässigungsaufforderung an und militärische Unterstützung von Israel. Schafft es Trump, bekommt Netanjahu alles, was er fordert.» Nicht der Meinung eines Zuhörers ist er, dass Israel durch arabische Kreise bedroht und die militärische Reaktion verständlich ist. «Wir haben hoffnungsvolle Zeiten erlebt und auch viele Araber wünschen sich Frieden im Nahen Osten.» Und der Iran? «Die iranische Führung ist in der Bevölkerung nicht sehr beliebt, die Menschen machen oft das, was sie wollen und nicht was die politische Führung will.» Bei der Umgehung von Sanktionen sei der Iran heute aber ein Spezialist, so beispielsweise in Sachen Erdöl. «Zudem hat er die Meerenge von Hormus und damit die Verbindung vom Persischen Golf in den Indischen Ozean unter Kontrolle.» Ob Netanjahu vom geplanten Terrorangriff nichts gewusst habe, sei auch für ihn eine offene Frage.
Mit Applaus bedankte sich das Publikum für die spannenden, informativen und auch belastenden Ausführungen von Gysling, der einmal mehr als profunder, erfahrener Kenner der Lage im Nahen Osten überzeugte.