Murianer aus dem Bilderbuch
14.07.2020 Muri«Erlebt – Senioren erzählen von früher»: Hans Stöckli war Pöstler mit Leib und Seele
Er heisst eigentlich Johann Stöckli. «Alle sagen mir Hans», sagt er. Am 4. August wird er 89-jährig. Seit seine Frau vor sechs Jahren starb, lebt er im St. Martin. Seinen Beruf als Pöstler liebt Hans Stöckli immer noch. Und seine Geschichten von früher auch.
Annemarie Keusch
Hans Stöckli lacht. Manchmal lacht er so stark, dass er sich mit dem Taschentuch die Tränen abwischen muss. Manchmal überlegt Hans Stöckli auch zwei, drei Sekunden. Jedes Mal entschuldigt er sich, weil er die Jahreszahl nicht wie aus der Pistole geschossen weiss. Wann er heiratete zum Beispiel, oder wann er die Stelle als Buttwiler Posthalter annahm. Hans Stöckli entschuldigt sich auch, wenn er hustet. «Ich habe kein Corona, ganz sicher nicht», sagt er.
Von früher erzählen – Hans Stöckli tut es gerne. Auf einem Bauernhof in Muri-Dorf aufgewachsen, hat er ein bewegtes «und glückliches» Leben hinter sich. 89-jährig wird er in wenigen Tagen. Seine Familie ist über die Jahre angewachsen, von fünf Kindern – eines davon starb im Alter von wenigen Monaten am plötzlichen Kindstod – auch Enkel und Urenkel – ein Urenkel kam vor gut einer Woche auf die Welt, einer sei noch unterwegs. «Darauf bin ich stolz», sagt er.
Posthalter in Muri und in Buttwil
Stolz ist er besonders, dass zwei seiner Kinder und ein Enkel bei der Post arbeiten. So, wie er sein ganzes Berufsleben lang. Zuerst lange Zeit in Muri, nachher noch längere Zeit in Buttwil. «Ich kenne noch heute alle Strassen in den Dörfern», sagt er. Und auch im Altersheim St. Martin, wo Stöckli seit dem Tod seiner Frau vor sechs Jahren lebt und sich wohlfühlt, kennt er fast alle. «Vielen von ihnen habe ich früher die Post vorbeigebracht.»
Hans Stöckli war viele Jahre Präsident der Murianer Michaelsbruderschaft. Er war Fasnächtler, «durch und durch», gar Stadtpfarrer bei der Fasnachtsgesellschaft Muri-Neuenburg. Vieles hat Stöckli mit diesen Hobbys erlebt und er erzählt davon im Rahmen der Sommerserie «Erlebt – Senioren erzählen von früher».
«Meister, nämmer e Schnupf?»
«Erlebt – Senioren erzählen von früher» mit Hans Stöckli aus Muri
Er ist Pöstler, Fasnächtler, Bauernsohn, Vater, Grossvater, Urgrossvater, Ehemann, gläubiger Christ und mittlerweile Bewohner im Altersheim St. Martin. Hans Stöckli hat aus seinem Leben ganz viele Anekdoten zu erzählen. Und er tut dies noch so gerne.
Annemarie Keusch
Als jüngstes von sechs Kindern wuchs Hans Stöckli auf einem kleinen Bauernbetrieb in Muri-Dorf auf. «Wir waren eine kleine Familie, im Vergleich zu anderen», sagt er heute. Zu Fuss verteilte er ab dem 17. Lebensjahr die Post in Muri und später viele Jahre in Buttwil. Hans Stöckli spricht von lustigen Erlebnissen, von schwierigen Situationen – sei dies in seinem Beruf, mit seiner Familie, seinem Glauben oder seiner früheren Leidenschaft, der Fasnacht.
Nein, Landwirt wollte ich nie werden. Als Kind half ich immer mit, viele Arbeiten erledigte ich auch nicht ungern. Aber beruflich? Nein, danke. Mein Vater und mein Onkel bewirtschafteten unseren Hof in Muri-Dorf. Mein Vater starb, als ich 17 Jahre alt war. Zum Glück übernahm ein Bruder den Bauernhof. So hatte ich überhaupt erst die Möglichkeit, zur Post zu gehen. Zu dritt aus Muri fuhren wir an den Einführungskurs in Aarau, ein Buttwiler war auch dabei. 1949 ist das gewesen. Drei Wochen Theorieunterricht. Dass beim Pöstlerberuf viele lustige Momente auf uns zukommen, merkte ich schon dort. Ein Kursleiter erzählte davon, dass einst bei der Sihlpost eine Reklamation einging, weil bei einer gelieferten Zuger Kirschtorte ein Stück fehlte. Heute muss ich noch lachen, wenn ich daran denke. Solche Sachen erlaubte ich mir als Briefträger selbstverständlich nie.
Mit fünf Geschwistern wuchs ich in Muri auf, der Älteste mit Jahrgang 1914 und ich mit 1931 der Jüngste. Ich habe viele gute Erinnerungen an die Kindheit, aber auch schwierige. Mein Vater hatte nicht gerne Durst – in der «Linde», im «Frohsinn» und im «Engel» war er Stammgast. Für uns war das nicht immer einfach. Ich erinnere mich daran, dass ich einmal nicht ins Jungwachtlager gehen konnte, weil mein Vater die 20 Franken dafür nicht zahlen wollte oder konnte. Das habe ich ihm insgeheim nie vergessen. Aber ich bin zufrieden. Vor allem, weil ich mit meiner lieben Frau Klara selber eine Familie gründen konnte. Fünf Kinder kamen zur Welt, eines starb leider nach wenigen Monaten am plötzlichen Kindstod. Vor sechs Jahren starb meine Frau. Aber meine Familie, meine Kinder, Enkel und Urenkel schauen gut zu mir. Dafür bin ich sehr dankbar.
Apropos Urenkel. Als meine Frau und ich vor sieben Jahren die goldene Hochzeit feierten, hatten wir noch keine Urenkel. Ich versprach dem ersten Enkel oder der ersten Enkelin, der oder die uns Urenkel schenkt, einen Batzen. Dann hat es geklappt.
Den Pöstlerberuf kann man mit heute fast nicht mehr vergleichen. Und ja, es stimmt, dass früher das eine oder andere Schnapsglas bereitstand, als wir die Briefe und Pakete verteilten. Als ich noch in Muri unterwegs war, hatte ich jeden Morgen mit dem damaligen Gemeindeschreiber Strebel eine lustige Begegnung. Er kam zur Post, wo heute die UBS ist, und sagte: «Meister, nämmer e Schnupf?» Warum er mich Meister nannte, weiss ich bis heute nicht. Aber natürlich streckte ich jeweils meine Hand durch die Gitterstäbe. Noch heute nehme ich mit den Jungen ab und zu gerne einen Schnupf. Auch eine Kiel rauche ich mit einem Freund gerne, aber selten. Ich sage es jeweils so: Wer schnupft und raucht, arbeitet auch.
Dass ich Pöstler wurde, war mehr oder weniger Zufall. Mein Glück war es, dass mir die Arbeit anfing zu gefallen. Es ist der Kontakt mit den Menschen in den Dörfern, der die Arbeit interessant macht. Und was mich noch stolzer macht als die vielen Berufsjahre bei der Post, ist die Tatsache, dass zwei meiner Kinder und ein Enkel auch bei der Post arbeiten. Ein Sohn übernahm meine Tätigkeit in Buttwil, bis die Poststelle dort geschlossen wurde. Wir sind eine richtige Postfamilie. Dass mein Sohn mein Nachfolger wurde, empfand ich als grosses Glück. Reingeredet habe ich ihm nie. Ausser einen Tipp gab ich ihm: Lass dich nie in den Gemeinderat wählen. Ich kannte das aus der Zeit, als zwei meiner Arbeitsgspänli Gemeinderäte waren. Die Leute lauerten ihnen richtig auf, um mit ihnen zu diskutieren. Ich selber hielt mich an diesen Ratschlag, mein Sohn auch.
Ein nicht unwichtiger Teil meines Lebens ist die Religion. Schliesslich bin ich einer der «Michels», wie unser Zuname in Muri-Dorf hiess. Woher der Name genau kommt, weiss ich nicht. Ich vermute aber, dass er in Zusammenhang mit der Michaelsbruderschaft lag. Lange war ich deren Präsident. Überhaupt, Religion ist für mich nicht unwichtig. Ich weiss noch genau, ich war in der vierten oder fünften Klasse. Der Krieg wütete. Viele Männer wurden in den Aktivdienst eingezogen, auch jener, der jeden Sonntagmorgen die sechs Glocken des Südturms des Klosters Muri läuten sollte. Er fragte mich, ob ich das für ihn übernehme. Hei, hatte ich einen Stolz.
Überhaupt, mit der Klosterkirche war ich von Anfang an eng verbunden – und bin es heute noch. Wir gingen hier zur Schule. Da war noch vieles anders. Im heute herausgeputzten Kreuzgang hielt der Abwart Kaninchen.
Und wie es sich für einen Murianer gehört, war ich in jungen Jahren auch ein richtiger Fasnächtler, eine Zeit lang war ich sogar Stadtpfarrer von Muri-Neuenburg. Zufall oder besser gesagt Pech war für mich, dass ich an einem 5. Februar in die Rekrutenschule einrücken musste, mitten in der Fasnacht, was natürlich alle wussten. Im «Frohsinn» haben sie mir das ganze Gesicht mit Lippenstift vermalt. So konnte ich natürlich nicht beim Militär erscheinen. Ich brachte die Farbe schliesslich weg, aber nur dank langem Rubbeln.
Seit sechs Jahren lebt Hans Stöckli im St. Martin in Muri. Noch immer ist er rüstig, viel unterwegs mit seinem Rollator – und das schneller, als es wohl viele von einem bald 89-Jährigen denken. Er hat eine schwere Herzoperation gut überstanden und sagt: «Ich bin zufrieden, habe keine Schmerzen, was will ich mehr.» Die sechs Tabletten morgens und eine abends steckt er gut weg. Und: Auch der langjährige Beinwiler Posthalter lebt im St. Martin. «Es gibt immer etwas zu berichten.»