Nach 23 Jahren ist Schluss
02.09.2022 MuriAlfred Schleiss verliess Ende Monat das Spital
Über 23 Jahre lang ging Alfred Schleiss im Spital Muri ein und aus. Während seiner Amtszeit als Chefarzt Gynäkologie und Geburtshilfe kamen in Muri 12 234 Kinder zur Welt. «Das sind die schönen Momente, aber leider gab es auch andere», sagt er. Der gebürtige Bündner blickt zurück auf die über zwei Jahrzehnte am Spital Muri. Und er erinnert sich an die Anfänge, als er mit seiner Familie von Chur ins Freiamt zügelte. «Dass ich über 23 Jahre bleibe, hätte ich damals nicht gedacht», gesteht er.
Nun hat Schleiss eine neue Herausforderung angetreten, in der «Gyn-Praxis» in Wohlen. Dem Spital bleibt er als Belegarzt weiter treu. --ake
23 Jahre – 12 234 Geburten
Alfred Schleiss verlässt das Spital Muri als Chefarzt Gynäkologie und Geburtshilfe – neue Station in Wohlen
Das Brustzentrum des Spitals Muri ist eng mit seinem Namen verbunden. Überhaupt hat Alfred Schleiss das Spital fast ein Vierteljahrhundert lang mitgeprägt und dabei Höhen und Tiefen erlebt. «Als Chefarzt ist es nicht immer ein Zuckerschlecken», sagt er. Er freut sich, die Verantwortung nun abgeben zu können.
Annemarie Keusch
Diese Frage ist einfach. Und trotzdem greift Alfred Schleiss zum Telefon. Er will es genau wissen. Die entsprechende Antwort kommt schnell. 12 234 Kinder sinds, die in der Zeit im Spital Muri zur Welt kamen, in der Alfred Schleiss Chefarzt Gynäkologie und Geburtshilfe war. «Bei wie vielen Geburten ich selber dabei war, das weiss ich nicht.» Dass die Geburten die besonders schönen Momente seines Alltags waren, ist wenig überraschend. «Das Strahlen in den Augen der Eltern zu sehen, das ist immer wieder schön», sagt er. Besonders, wenn die Schwangerschaft oder die Geburt nicht einfach waren. «Davon wird man nie müde», sagt Schleiss. Überhaupt, betont er: «Ich bin nicht ausgelaugt.» Dass er nach 23 Jahren am Spital Muri eine neue berufliche Herausforderung sucht, habe andere Gründe.
1999 wars, als Schleiss mit seiner Familie vom Bündnerland nach Muri kam. Vorher war er Oberarzt in einer Klinik in Chur und stellte sich die Frage: Wie weiter? Die Grösse des Spitals Muri war es, die ihn überzeugte. «Nicht zu gross, aber auch nicht zu klein.» Und Bauprojekte standen kurz vor der Realisierung. «Das war für mich eine Voraussetzung», gesteht er. Kommt hinzu, dass ihn die Wahlkommission unbedingt nach Muri holen wollte. «Einfach war der Entscheid trotzdem nicht. Wir haben innerhalb der Familie viel diskutiert.»
Der Start war nicht einfach
Schliesslich entschied sich die Familie für Muri. Den Ort, den er nur vom Vorbeifahren kannte. «Ich arbeitete ein Jahr in Aarau. Wollte ich den Weg durch Zürich umgehen, fuhr ich durch das Freiamt, also auch durch Muri.» Die Klosterfassade sei ihm natürlich aufgefallen. Und der Bündner sagt: «Vielleicht können es nicht alle nachvollziehen, dass wir von Graubünden nach Muri kamen. Aber auch das Bündnerland hat seine Tücken. Gerade beruflich sind die Möglichkeiten eingeschränkt.» Kommt hinzu, dass Schleiss mittlerweile auch die Vorzüge des Freiamts kennengelernt hat. «Es ist wirklich schön hier», sagt er. Und so weit entfernt seien die Berge auch nicht.
Trotzdem, dass es 23 Jahre werden würden, hätte Alfred Schleiss anfangs nicht gedacht. «Das erste Jahr war harzig», erinnert er sich. Auch für die Kinder sei es nicht einfach gewesen in der neuen Schule. «Aber plötzlich vergingen die Jahre schnell.» Schleiss war zwischenzeitlich in der Spitalleitung und hat die Entwicklung des Spitals hautnah miterlebt. «Das Spital ist stark gewachsen, das hat natürlich auch Herausforderungen mit sich gebracht», sagt er. Dies treffe auch auf die Gynäkologie und Geburtshilfe zu. «Nach dem Neubau 2003 waren es auf einen Schlag jährlich hundert Geburten mehr», nennt er ein Beispiel.
«Grösse halten oder gar ein wenig wachsen»
Stark mitgeprägt hat Schleiss das «Brustzentrum Aargau», welches das Spital Muri in Kooperation mit dem Kantonsspital Baden erfolgreich betreibt und welches in die Liste der zertifizierten Brustzentren der Schweiz aufgenommen wurde. «Ich bin schon stolz, dass wir das geschafft haben», sagt er. Als kleines Spital sei es nicht einfach, sich zu behaupten. «Früher waren auch noch gynäkologische Krebsfälle bei uns. Mit der Zentralisierungstendenz fielen diese weg. Das Brustzentrum zu halten und zu zertifizieren, war darum umso wichtiger.» Denn das Spital Muri wolle mehr bieten als Grundversorgung. Nicht nur diesbezüglich spricht Schleiss die gute und enge Zusammenarbeit mit anderen Spitälern, speziell dem Kantonsspital Baden, an.
Schleiss weiss um den steten Kampf des Spitals Muri. «Für uns ist es wichtig, die Grösse zu halten oder gar ein wenig zu wachsen», meint er. Schleiss sagt mehrmals «wir». Denn Alfred Schleiss interessiert sich auch weiterhin, wie es dem Spital Muri geht. «Wir kennen einander und alle Bereiche.» Darum interessiert ihn auch der finanzielle Erfolg, der immer schwieriger zu erzielen ist. «Es ist auch eine Verantwortung, die ich gegenüber dem Spital und gegenüber den Mitarbeitenden mittrage», so Schleiss über seine Einstellung.
Auch ein Familienarzt
Dass er Medizin studieren würde, das sei nicht von Anfang an klar gewesen. «Ich begann mit einem Physikstudium, stellte aber schnell fest, dass mir der menschliche Kontakt fehlt», erzählt er. Medizin sei für ihn die beste Kombination von Wissenschaft, Technik, Menschlichkeit und Handwerk. Die Abwechslung war es auch, weswegen er sich auf Gynäkologie und Geburtshilfe spezialisiert hat. «Operieren, diagnostizieren, aber auch Sprechstunden gehören dazu.» Schleiss hatte anfangs im Sinn, Allgemeinmediziner zu werden. «Nun bin ich auch ein Stück weit Hausarzt oder besser Familienarzt, wenn auch vor allem für die weiblichen Familienmitglieder.»
Alfred Schleiss hat seinen Job am Spital Muri gerne gemacht. «Die schönen Momente überwiegen, auch wenn es andere gab», sagt er. Wenn trotz aller möglichen Bemühungen etwas nicht gut komme, dann sei dies nicht immer einfach zu akzeptieren und erst recht nicht einfach, den Patientinnen zu vermitteln. «Wichtig war mir immer, die Patientinnen nicht allein zu lassen nach schlechten Diagnosen, sondern weiterhin optimal zu betreuen.»
Als Frauenklinik geniesst das Spital einen guten Ruf
Nichtsdestotrotz, für ihn sei die Zeit des Abschiedes gekommen. Er übergebe guten Gewissens bis Ende Jahr an eine Interimslösung, ab Neujahr an die neue Chefärztin Kirsten Stähler. «Für mich ist die Zeit gekommen, mein Wissen und Können nur noch für die Patientinnen einzusetzen.» Die Führungsverantwortung für das ganze Team fällt weg, viele Sitzungen ebenso. Die hohe Verantwortung sei immer wieder auch zur Belastung geworden. Diese nicht mehr tragen zu müssen, darauf freut er sich. «Der Zeitpunkt passt. Personell sind wir gut aufgestellt, die Abläufe sind eingespielt, die Infrastruktur passt, der Ruf des Spitals Muri als Frauenklinik ist gut.»
Neue Herausforderung in Wohlen
In der «GynPraxis» in Wohlen hat Schleiss eine neue Herausforderung gefunden. «Ich freue mich», sagt er. Und trotzdem, leicht fällt ihm der Abschied nicht. Mit einer kleinen Feier verabschiedete er sich bereits von Kolleginnen und Kollegen. Es sind überwiegend gute Gefühle, mit denen Schleiss das Spital Muri verlässt. Wobei ganz stimmt das nicht, als Belegarzt wird er weiterhin im Spital Muri arbeiten.