Neues Leben in alten Mauern

  08.02.2022 Region Oberfreiamt

Die Josef Müller Stiftung Muri erwirbt den «Kapf» – just zum 100.Geburtstag von Erika Burkart

Mehr als 100Jahre war der «Kapf» in Aristau – das Zuhause der Schriftstellerin Erika Burkart – in Familienbesitz. Nun hat die Josef Müller Stiftung Muri die denkmalgeschützte Liegenschaft gekauft, um sie später der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.

Schon der Name verrät seine Lage: «Kapf» bedeutet nichts anderes als Aussichtspunkt. Tatsächlich liegt das Landhaus Kapf an herrlicher Panoramalage zwischen Reusstal und Bünztal. Es ist umgeben von einem märchenhaften Garten und einer idyllischen Freiämter Landschaft. Dass es sich hier gut leben lässt, hat sich schon Abt Plazidus Zurlauben Ende des 17. Jahrhunderts gesagt und auf der Moräne eine Trotte gebaut, die auch ein paar Zimmer umfasste. Müde Mönche konnten sich dort zur Erholung zurückziehen. 50 Jahre später war es Fürstabt Georg Haimb, der das bis heute bestehende barocke Wohngebäude am selben Ort erstellen liess.

Bauernhof und Ausflugsbeiz

Ab 1800 wurde der «Kapf» zum Bauernhof, bis er 1920 an den Grosswildjäger Walter Burkart verkauft wurde, der mit seiner Familie dort wohnte und eine Ausflugsbeiz betrieb. Seither ist der «Kapf» in Familienbesitz. Tochter Erika, die Schriftstellerin, lebte bis zu ihrem Tod 2010 dort. Heute kümmert sich ihr Mann Ernst Halter mit Herzblut darum, die geschichtsträchtige Liegenschaft zu erhalten. Auf seine Initiative wurde der «Kapf» 2015 unter kantonalen Denkmalschutz gestellt. Fussböden, Treppen und Türrahmen, aber auch die bemalten Tapeten sind noch aus dem Jahr 1736.

Doch nun gibt es Handlungsbedarf: Die Fassaden bröckeln, Feuchtigkeit setzt dem Fundament zu, alles ist in die Jahre gekommen. Diese Probleme kann und will der 84-jährige Halter, nachdem er sich ein halbes Jahrhundert um den «Kapf» gekümmert hat, nicht mehr selbst stemmen.

Um das bedeutende Baudenkmal zu retten, hat die Josef Müller Stiftung Muri den «Kapf» gekauft. Sie will ihn später sanieren und als Ort der Kultur, der er dank dem Schriftstellerpaar Erika Burkart und Ernst Halter längst ist, weiterleben lassen. Haus und Garten sollen der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. Dies allerdings erst dann, wenn Ernst Halter nicht mehr von seinem Wohnrecht auf Lebenszeit Gebrauch machen will. Es sei, so Halter, eine wunderbare Lösung – für ihn, den «Kapf» und für das Freiamt.

Eine wunderbare Lösung, die an dem Tag publik wird, an dem die Schriftstellerin Erika Burkart ihren 100. Geburtstag feiern würde.

Christoph Zurfluh


«Ich lebte von Kunst und Liebe»

Die Schriftstellerin und Lyrikerin Erika Burkart wäre heute 100 Jahre alt geworden

Am 8. Februar 1922 kommt sie zur Welt. Fast ihr ganzes Leben verbringt Erika Burkart im «Kapf» in Althäusern. Von ihrer Umgebung inspiriert, wird sie zu einer der grössten deutschsprachigen Dichterinnen des 20. Jahrhunderts. Auch dank ihrem Mann, dem Schriftsteller Ernst Halter. Eine Begegnung.

Auf seinem Weg durchs Freiamt trifft der 29-jährige Ernst Halter 1967 eine schicksalshafte Entscheidung: Er macht in Althäusern einen spontanen Abstecher zum «Kapf», der ehemaligen Sommerresidenz der Äbte des Klosters Muri. Das barocke Anwesen an bester Aussichtslage ist zwar in die Jahre gekommen, doch es soll dort ein paar sehenswerte bemalte Wandbehänge geben. Die möchte sich der Literatur- und Kunstwissenschaftler aus Neugierde mal ansehen. Als er die Treppe zum Wohnhaus hochsteigt, steht oben eine wunderschöne Frau. Es ist Erika Burkart. Freundlich empfängt sie den Fremden. Ernst Halter kennt das Werk der damals bereits erfolgreichen Dichterin, ist ihr aber noch nie begegnet und weiss nicht mal, dass sie hier wohnt.

Den Charakter der Sommerresidenz behalten

Nachdem er sich die laut eigener Aussage «drittrangigen Tapeten» kurz angeschaut hat, reden sie zwei Stunden über Literatur. Danach gibt es für beide keinen Zweifel mehr. Der Besucher weiss: Sie ist die Frau, mit der er sein Leben verbringen wird. Der Sessel, auf dem er es sich bequem gemacht hat, wird ein Leben lang sein «heiliger Stuhl» sein.

Das Treffen mit Ernst Halter findet an dem Ort statt, an dem er Erika Burkart vor 55 Jahren begegnet ist. Es ist bitterkalt, auch im Flur, der – wie praktisch das ganze Haus – unbeheizt ist. Schliesslich war der «Kapf» eine Sommerresidenz und soll diesen Charakter behalten. Im Wohnzimmer verbreitet ein Pellet-Ofen wohlige Wärme.

Wer war Erika Burkart?

Ernst Halter: Ah, s Erikali … (seufzt lächelnd) Sie hatte ein grosses Ego – «sacro egoismo». Um mit ihr zusammenleben zu können, musste man ihr Paroli bieten. Gleichzeitig war sie aber auch unsäglich gewinnend, die Liebe meines Lebens. Und natürlich eine grossartige Dichterin – nicht von Anfang an allerdings.

Trotzdem wurde sie schon sehr früh mit Auszeichnungen überschüttet.

Sie bekam ihre ersten Preise in einer Zeit, als sie Gedichte schrieb, die mit wenigen Ausnahmen schlecht waren, nicht sie selbst, Maskengedichte. Warum sie dennoch ausgezeichnet wurde? Weil die Menschen nach dem Horror des Zweiten Weltkriegs Trost suchten. Und diesen Trost konnte Erika mit ihren romantischen, wunderbar gereimten Gedichten, in denen sie geradezu professionell mit dem lieben Gott verkehrte, bieten.

Ein hartes Urteil …

… dem sie beipflichten würde. Sie hat ihren zweiten Gedichtband «Sterngefährten» mir gegenüber rundweg verworfen. In den ersten neun Jahren ihres Schaffens hat sie mehr als ein Drittel aller Gedichte verfasst, in den restlichen fünfzig Jahren den Rest. Und sie wurden immer besser. Das revolutionärste und einzigartigste Gedicht ist «Meer», das sie kurz vor ihrem Tod geschrieben hat.

Apropos Romantik: Ihr haftete zeitlebens etwas Feenhaftes an.

Daran war sie nicht unschuldig. Sie hat sich lange Zeit als Fee im abgelegenen Äbtehaus feiern lassen. Sie pflegte das Prinzessinnenhafte, sie war ja eine der meistfotografierten Frauen der Schweiz. Und sie liebte Kleider, die sie meist selbst entwarf. Ihre Freundin und Schneiderin Cécile Hoffelner besitzt wohl gegen fünfzig solcher Zeichnungen von Erika.

Erika Burkart hatte keine einfache Kindheit, vor allem wegen ihres Vaters, der trank und gewalttätig sein konnte.

Aber er ist es, von dem sie das Talent zum Schreiben hatte.

Erikas Vater Walter kommt in Rheinfelden als Sohn des Pfarrers und Historikers Sebastian Burkart zur Welt. Er lebt von 1902 bis 1919 mehrheitlich in Lateinamerika, wo «Don Gualtiero» den Ruf des verwegenen Jägers geniesst. Über diese Zeit schreibt er den Bestseller «Der Reiherjäger vom Gran Chaco» (1931) und geht mit seinen Schwarzweiss-Glasdiapositiven aus dem bolivianischen Chaco auf Vortragstour durch die Schweiz.

«Kapf» erinnert den Vater an den Amazonas

1914 oder 1915 lernt er auf einem Heimaturlaub Marie-Hedwig Glaser kennen. Sie ist die Tochter des im Freiamt bekannten Arztes Arnold Glaser, Besitzer der Wasser-Kur- und Heilanstalt Muri. Anfang 1921 heiraten die beiden und ziehen in den «Kapf», den Walter nach eigenen Worten deshalb gekauft hat, weil er «unter blankem Himmel zwischen den Nebelmeeren über dem Bünzer Moos und dem Reusstal» liegt. Das erinnere ihn an den Amazonas.

Walter Burkart renoviert den «Kapf» und eröffnet ein Restaurant, dessen bester Gast er selber wird. Seine Frau führt im oberen Stock ein Weiterbildungsinstitut für bessere Töchter aus dem Welschland. Doch das Familienglück währt nicht lange. Für die Kinder Erika und Mimosa stellt der Vater vor allem eine Bedrohung dar. Er ist unberechenbar und gewalttätig. Erika liebt ihn auf ihre Weise. Und erbt von ihm sein schriftstellerisches Talent.

Erika hat ihren Vater geliebt, obwohl sie ihn auch fürchtete. Warum?

Ernst Halter: Sie liebte in ihrem Vater wohl den Mann. Das war ein besonderer Wesenszug von ihr: Sie hatte zwar immer gute Freundinnen, aber wirklich interessiert war sie an Männern. Das geht so weit, dass sie auffällig oft von «Er» und nicht von «Sie» sprach, wenn sie über sich selber schrieb. Erika liebte Männer. «Ich lebte von Kunst und von Liebe», war ihr Grundzitat.

Und ihre Mutter?

Mit ihr hatte sie ein inniges, zuweilen ambivalentes Verhältnis, bei dem sich äusserste Innigkeit und heftiger Streit abwechselten. Ihre Beziehung zeigt sich eindrücklich in ihrem Gedicht «Ort der Kiefer». Es ist eine der grössten Totenklagen der deutschen Literatur, geschrieben für ihre Mutter und in Teilen vertont.

Erika Burkart war extrem verbunden mit der Landschaft im Freiamt, aber fühlte sie sich auch als Freiämterin?

Das denke ich nicht. Sie war damals, vor fast hundert Jahren, schon aufgrund ihrer Konfessionszugehörigkeit eine Fremde im Freiamt. Wenn sie in der Schule etwas besonders gut gemacht hatte, meinte die Lehrerin nur: «Muesch der gaar nüt iibilde, chunnsch doch i t Höll.»

Heute gilt sie als eine der bedeutendsten Lyrikerinnen im deutschsprachigen Raum. War sie sich dessen bewusst?

Gewiss. Sie hat es auch an den Auflagen ihrer Bücher gesehen, die – für Lyrik – geradezu atemberaubend waren. Besonders wichtig war es ihr nicht.

Hatte sie als «Bestsellerautorin» ihr Publikum vor Augen?

Überhaupt nicht. Es spielte für sie keine Rolle. Sie war auch nicht berechnend, wenn es um Honorare ging. Geld war ihr nur in Bezug auf Kleider wichtig, der einzige wirkliche Luxus, den sie sich leistete.

Erika Burkart kommt am 8. Februar 1922 zur Welt. Sie ist ein hochbegabtes Mädchen. Doch dass sie gerne Lehrerin werden würde wie ihre Mutter, kümmert ihren Vater nicht. So ist es ihr Onkel, der Pfarrer von Mumpf, der ihr das Lehrerinnenseminar in Aarau ermöglicht. Erika gibt ein paar Jahre Unterricht im Aargau, meist als «Vikarin», also Stellvertreterin. So kann sie abends nach Hause in den «Kapf», für den ihr Herz schlägt. Es ist ein grosses Herz, als Organ allerdings nur halb so gross, wie es sein sollte. Schon früh erleidet sie deshalb einen Herzinfarkt. Sie hängt ihren Beruf an den Nagel und folgt ihrer Berufung: dem Schreiben. Anfänglich sind es Gedichte, ab 1970 auch Prosa, als erstes Buch der Roman «Moräne».

Erste und bisher einzige Frau mit Grossem Schillerpreis

Im Laufe ihrer Karriere bekommt sie alle wichtigen Preise, unter anderem 2005 den Grossen Schillerpreis für ihr Gesamtwerk – als erste und bis heute einzige Frau. Doch zu diesem Zeitpunkt ist sie bereits krank. An einer Sendung des Schweizer Radios ihr zu Ehren mag sie nicht mehr teilnehmen. Die Kräfte, sagt sie entschuldigend, würden nicht mehr ausreichen. Am 14. April 2010 stirbt Erika Burkart im Alter von 88 Jahren in Muri.

Was hat Erika Burkart geliebt?

Ernst Halter: Alles Vegetabile: Blumen, Bäume, den Garten, die Landschaft um uns herum. Und die Wolken. Für sie waren es die Vertreterinnen der Metamorphose, der Wesensveränderung. Bei unserer täglichen Teestunde um fünf sass sie oft da und beobachtete die Wolken.

Und worüber unterhalten sich zwei Schriftsteller beim Tee?

Über alles, was uns beschäftigt hat: das Schreiben, die Literatur, Bücher, Kunst. Das war unser tägliches Brot, unsre «heilige» Stunde. Doch nicht nur: Ich habe von ihr viel gelernt über Botanik und sie von mir über Astronomie, Geografie und Geologie. So sind wir miteinander gewachsen.

Welches Buch muss lesen, wer Erika Burkart kennenlernen will?

«Am Fenster, wo die Nacht einbricht». Es ist ihr letztes Buch, das ich herausgegeben habe und mit dem ich von ihr Abschied nehmen konnte. Man bekommt einen umfassenden Einblick in ihr von inniger und schmerzlicher Teilnahme an allem Lebendigen geprägtes Wesen.
Christoph Zurfluh


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