Reich an Erinnerungen

  14.05.2021 Sport

«Freiämter Olympioniken»: Christian Reich

Christian Reich war an acht Olympischen Spielen mit dabei. Der Bobfahrer aus Künten musste in den letzten drei Jahren heftige Schicksalsschläge verkraften.

Er gehört zu den prägendsten Figuren im Bobsport. Im Eiskanal feiert er grosse Erfolge: Olympia-Silber, mehrfacher Medaillengewinner an Weltund Europameisterschaften, Gesamtweltcupsieger. Nach der Karriere wird er Trainer, Bobkonstrukteur, Materialexperte und Vizepräsident des internationalen Bobverbandes und aktuell ist er TV-Experte beim Schweizer Fernsehen. Zudem organisierte er Events im Sport- und Kulturbereich. Vor rund 20 Jahren holte er Prinz Albert von Monaco (heute Fürst) für einen Gala-Abend ins Casino nach Bremgarten.

Nach einem Hirnschlag vor zwei Jahren und dem Tod seines Bruders vor wenigen Monaten hat sich bei Christian Reich so einiges geändert. «Ich kann es nicht anders sagen: Die letzten drei Jahren waren scheisse». Erstaunlich: Christian Reich steckt trotzdem voller Lebensmut und Zuversicht. --spr


Wenn das Leben aus der Bahn gerät

Serie «Freiämter Olympioniken»: Christian Reich aus Künten war an acht Olympischen Spielen dabei

Seit 30 Jahren ist Christian Reich im Bobsport zu Hause. Seit 1992 hat er keine Olympischen Spiele mehr verpasst. Sein Leben glich einem perfekten Eiskanal. Bis vor zwei Jahren das Schicksal mehrmals zuschlägt. Ein Hirnschlag und der Tod seines Bruders änderten vieles in seinem Leben. Heute ist «Chrigel» Reich ein anderer Mensch.

Stefan Sprenger

Es kommt schleichend und doch mit voller Wucht. Es ist ein kühler Januartag im Jahr 2019. Christian Reich ist in St. Moritz. Wie so oft. Er fährt mit dem Bob den Eiskanal hinunter, eine Gästefahrt. Wie so oft. Doch etwas an diesem Tag ist anders als sonst. Er beschreibt es als mulmiges, schwummriges Gefühl. «Ich dachte, ich sitze neben dem Bob», erzählt er. Später an diesem Tag kommentiert er für das Schweizer Fernsehen ein Bobrennen. Mitten in der Live-Übertragung hat Reich einen Aussetzer, er sagt nichts mehr. «Ich wusste nicht mehr, wo ich bin.» Nach wenigen Minuten ist alles wieder normal. Er kommentiert das Rennen zu Ende. Es scheint alles wieder gut zu sein. Doch der Schein trügt.

Acht Olympiaden erlebt – Lillehammer war die Beste

Wenn Christian Reich heute die Geschichte seines Hirnschlags erzählt, dann spürt man, dass er es akzeptiert hat und das Beste daraus macht. Man hört es in seinen Worten, man sieht es in seinem Gesicht. «Das Leben geht weiter.» Dieser stolze, kraftvolle und athletische Mann hat heute einigermassen den Tritt wieder gefunden.

Im Gespräch blickt er auf seine Karriere zurück. Und die verläuft märchenhaft. Er nennt den Bobsport gerne «Formel 1 des Wintersports». Seit über 30 Jahren ist er im Eiskanal zu Hause. Erst als Anschieber, dann als Pilot. Der Küntener war 16 Jahre lang in der Schweizer Bob-Nati und gehört zu den besten Bobfahrern aller Zeiten. Die Höhepunkte: Als Pilot im 2er-Bob gewinnt er den Gesamtweltcup (2000), wird Europameister (2002) und holt Olympiasilber in Salt Lake City (2002). «Diese Medaille war mein Olympia-Moment.» Reich wirkt dabei wehmütig und glücklich zugleich. «Mensch, waren das Zeiten.»

Was wohl kaum ein Sportler von sich behaupten kann: Er hat seit 1992 keine Olympischen Spiele mehr verpasst. 1992 in Albertville und 1994 in Lillehammer war er als Anschieber dabei. 1998 in Nagano und 2002 in Salt Lake City als Pilot. 2006 in Turin war er Trainer des Bobteams von Monaco. 2010 in Vancouver als Materialverantwortlicher der Schweizer Mannschaft. 2014 in Sotschi als Vizepräsident des internationalen Bobverbandes und schliesslich 2018 in Pyeongchang als Co-Kommentator des Schweizer Fernsehens.

Da drängt sich die Frage auf: Welche war die beste Winter-Olympiade? Christian Reich überlegt nicht lange und antwortet: «Lillehammer in Norwegen. Diese mystische Landschaft, die harmonische Stimmung, es war wundervoll.»

«Ich konnte das Besteck nicht mehr greifen»

Die Erinnerungen sind alle abgespeichert in seinem Langzeitgedächtnis. Damals, an diesem kühlen Januartag im Jahr 2019, war sein Kurzzeitgedächtnis plötzlich weg. Eine kleine grosse Welt brach zusammen. Nachdem er im Schweizer Fernsehen das Bobrennen zu Ende kommentiert hat, verschwindet er in seinem Hotelzimmer, schläft mehrere Stunden. Zum Abendessen rafft er sich auf. «Ich konnte das Besteck nicht mehr greifen.» Reich ruft seine Freundin an und sie besteht darauf, dass er ins Spital fährt. Der einzig richtige Entscheid. Zwei Stunden später war er im Krankenhaus. «Inklusive Blackout von rund einer Stunde.» Was er in dieser Zeit gemacht hat? «Keine Ahnung.» Die Diagnose ist aber klar: Hirnschlag. «Mein Kurzzeitgedächtnis war weg. Ich habe nicht wirklich kapiert, was mit mir passiert.»

Es folgt eine «Vollkrise»

Reich kommt in die Reha nach Bellikon. Drei Monate lang. Erst nach vielen Wochen realisiert er, was abgeht. Was danach folgt, ist eine «Vollkrise», wie er es nennt. Seine rechte Körperseite ist teilweise gelähmt. Wenn er Besuch kriegt, hat er wenige Minuten später vergessen, wer in seinem Zimmer war. Reich ist einer von 16 000 Menschen in der Schweiz, die pro Jahr einen Hirnschlag erleiden. Immer wieder stellt er sich die Frage: Warum ich? Die Antwort liefert er gleich selbst: «Ich habe zu viel gearbeitet. Sieben Tage die Woche, meistens 12 Stunden am Tag. Der Hirnschlag ist darauf zurückzuführen, dass ich mir zu viel aufgehalst habe und ständig unter Druck stand.» Als würde er ein Bobrennen analysieren, folgt eine pointierte Selbstreflexion dieses tragischen Schicksalsschlags.

Während der Reha-Phase fällt er in ein psychisches Loch. Was hilft, ist sein sportlicher Ehrgeiz. «Sport gibt Zuversicht. Es spendet mir viel Willen, um weiterzukämpfen.» Seine Beschwerden merzt er dadurch grösstenteils aus. Geschicklichkeitsübungen, Gedächtnistraining, unbändiger Ehrgeiz. Der frühere Spitzensportler kämpft sich zurück, beginnt im Juli 2019 wieder mit dem Arbeiten als Key Account Manager. Nur Teilzeit, weil er schnell müde wird. Körperlich merkt man ihm kaum etwas an, im Innern sieht es anders aus.

Dann kommt das Jahr 2020. Als sich sein Leben nach dem Hirnschlag wieder einigermassen in der Bahn befindet, boxt das Schicksal mit aller Härte erneut zu. Corona kommt im Frühling 2020. Und mit dem Virus die Kündigung für Christian Reich. Im Sommer erleidet seine Mutter einen Herzinfarkt. Und seinem Bruder Ueli Reich geht es immer schlechter. Er erhielt im Sommer 2018 eine niederschmetternde Krebsdiagnose. Im Jahr 2019 stabilisiert sich sein Gesundheitszustand und die Ärzte prophezeien ihm noch einige Jahre. Im Herbst 2020 geht es Ueli Reich allerdings immer schlechter. Zu jener Zeit regelt die Familie die Zukunft der Firma «Reap Haushaltsgeräte AG», die ursprünglich vom Vater gegründet und vom Bruder Ueli weitergeführt wurde. Sie gleisen 2019 alles auf und verkaufen das Geschäft schliesslich 2020. «Ein schwerer Entscheid, aber es musste sein.» Christian Reich war bis zum Verkauf noch Verwaltungsratspräsident.

Der Tod seines Bruders Ueli

Januar 2021. Zwei Jahre sind seit dem Hirnschlag vergangen. Christian Reich ist seit einem Jahr arbeitssuchend. «Eine 20-Prozent-Stelle in Zeiten der Coronapandemie zu finden, ist ein schwieriges Ding», meint Reich, der einst den Beruf des Schreiners erlernte.

Doch das alles rückt in den Hintergrund. Seinem Bruder Ueli Reich geht es immer mieser. Seine Asbest-Lunge ist unheilbar – und sein Gesundheitszustand verschlechtert sich rasant. Sein um ein Jahr älterer Bruder Ueli, der für ihn die Medienarbeit verrichtete, der für seine Rennen in Übersee Public Viewings und nach seinen Triumphen im Eiskanal gigantische Feierlichkeiten in der Küntener Turnhalle organisierte, er liegt im Sterben.

Christian Reich besucht ihn im Spital, mit einer Sonderbewilligung aufgrund des Coronavirus. Gemeinsam schauen sie sich Bilder aus vergangenen Tagen an. Die beiden Brüder 2002 an den Olympischen Spielen in Salt Lake City. Gemeinsam posieren sie im «House of Switzerland». Ueli Reich konnte zwar nicht mehr sprechen, aber er hat noch vieles mitgekriegt. Beim Betrachten der Bilder beginnt er zu weinen. Wenige Tage später, am 25. Januar 2021, stirbt Ueli Reich im Alter von 54 Jahren. Die Trauer war gross, die Erleichterung auch. «Es war in den letzten Tagen kein Leben mehr für ihn. Ich war froh, dass er dann schnell gehen konnte und nicht mehr lange leiden musste.»

Was kommt, ist die Zeit danach. Eine Beerdigung mit 50 Leuten, wegen Corona. Es wären viele mehr gekommen. Trauergäste mussten aussortiert werden. Abschied nehmen während einer Pandemie ist noch schwieriger als sonst schon. «Unglaublich», so Reichs Kommentar mit gefasster und ruhiger Stimme. «Doch das Leben geht weiter. Irgendwie.»

Sein Bruder Ueli Reich hat zu Lebzeiten ein riesiges Archiv über die Karriere seines berühmten Bruders angelegt. Bilder, Zeitungsartikel, VHS-Videos. «Ich schaue mir heute oft die Rennen von damals auf Video an und archiviere sie», sagt Christian Reich. Ein Schwelgen in alten Erinnerungen. Es tut einfach nur gut. «All die schönen Momente nochmals aufleben lassen.» Damals, 1989, als er mit Pilot Nico Barrachi WM-Silber im Vierer-Bob gewann. Oder 1998 in Nagano, als er den vierten Rang im Zweierbob holte und nur knapp die Olympia-Medaille verpasste. Und an den Olympischen Spielen 2002 in Salt Lake City, als er sich einen packenden Zweikampf mit dem Deutschen Christoph Langen lieferte und zu Silber fuhr.

Der Sohn spielt beim FC Wohlen

Es sind wunderbare Erinnerungen. In seinem Archiv sind auch Dutzende Ausschnitte aus dieser Zeitung. Christian Reich wird in den Berichten immer als Freiämter bezeichnet. Doch genau genommen liegt Künten nicht im Freiamt. Reich winkt ab. «Ich bin ein Freiämter.» Der Grossteil seines Beziehungsnetzes geht in die Region. Und seine Spaziergänge führen ihn oft der Reuss entlang nach Bremgarten, wo er früher für wenige Jahre wohnte. «Ich fühle mich hingezogen zum Freiamt und zu den Menschen hier. Das war schon immer so.» Denn hier kennt man «Chrigel» und schätzt ihn als Sportler und umgänglichen Menschen. Hier ist sein Zuhause.

Er ist in Künten aufgewachsen, dort lebt er heute immer noch. Reich ist seit Jahren geschieden, hat wieder eine Freundin. Die zwei Söhne, 12 und 17 Jahre alt, geben ihm Kraft. Der jüngere Sohn Sven macht Leichtathletik beim BTV Aarau. Der ältere Sohn Nils macht die Lehre bei der Aargauischen Kantonalbank in Wohlen und bei der Zweigniederlassung in Bremgarten. Und er ist ein talentierter Fussballtorhüter bei den B-Junioren des FC Wohlen. «Er muss seinen Weg gehen und für sein sportliches Ziel kämpfen. Von mir hat er die volle Unterstützung», sagt Christian Reich, der Golfspielen und Kochen zu seinen liebsten Hobbys zählt. «Heute Abend kommen Freunde zu Besuch. Ich koche entweder eine Paella oder Coq au vin, mal sehen.»

Die letzten drei Jahre? «Scheisse»

Seine Konzentrationsfähigkeit ist nach wie vor begrenzt. Er muss viel schlafen. «Mit einigen Dingen muss ich mich arrangieren.» Dass man ihm kaum anmerkt, dass er vor zwei Jahren einen Hirnschlag erlitt, sei «Fluch und Segen» zugleich.

Heute, im Mai 2021, ist er wieder in seiner Bahn, im Leben. So gut es eben geht. Er kann die letzten drei Jahre nicht anders beschreiben als mit dem Wort «Scheisse». Die harten Zeiten scheinen vorbei zu sein. Er hofft auf bessere Tage. «Einige Dinge bereiten aber immer noch Kopfzerbrechen», sagt der 53-Jährige. Beispielsweise wie seine berufliche Zukunft aussieht. Doch nach den heftigen zwei Jahren wird er auch diese Hürde meistern. Irgendwie. Denn: «Irgendwie geht es immer», wie er so gerne sagt.

Christian Reich, ein Jahrzehnt lang war er der erfolgreichste Bobfahrer des Landes, strahlt Zuversicht aus. Er bleibt Co-Kommentator für den Bobsport beim Schweizer Fernsehen. Und eine gute Nachricht hat ihn vor wenigen Wochen erreicht: Der Bobverband hat ihn angefragt, ob er bei einem Materialprojekt mitwirken möchte. Vor über zehn Jahren war er in der Funktion des Co-Leiters des Materialentwicklungsprojekts «CITI-US» involviert. Gemeinsam mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH und namhaften Partnern aus der Industrie realisierte er damals dieses Projekt.

Er ist ein Experte, ein Bob-Fachmann. Er würde auch heute gerne wieder helfen. Einfach nicht ehrenamtlich. Die Kraft und die Zeit, an der er arbeitsfähig ist, sind begrenzt und muss er sich sorgfältig einteilen. Aber wenn er das tut, was er liebt – und das ist der Bobsport – dann geht es einiges länger, bis er müde wird.


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