Schüler sind früher erwachsen
09.07.2024 Mutschellen, SchuleKreisschule Mutschellen: Anita Schertenleib unterrichtete 36 Jahre, Thomas Leitch 35 Jahre
Vor 36 Jahren kam Anita Schertenleib als Lehrerin an die Kreisschule Mutschellen, ein Jahr später begann Thomas Leitch als Sekundarlehrer. Letzten Freitag verabschiedeten sich ...
Kreisschule Mutschellen: Anita Schertenleib unterrichtete 36 Jahre, Thomas Leitch 35 Jahre
Vor 36 Jahren kam Anita Schertenleib als Lehrerin an die Kreisschule Mutschellen, ein Jahr später begann Thomas Leitch als Sekundarlehrer. Letzten Freitag verabschiedeten sich beide in ihre verdiente Pension.
Roger Wetli
«Unser langjähriges Engagement an dieser Schule spricht für sie», stellt Thomas Leitch fest. Leitch leitete in den letzten 35 Jahren mehr als 10 Klassen durch vier, später drei Jahre Oberstufe, während Anita Schertenleib zuerst Fachlehrerin für Englisch und dann Klassenlehrerin an der Real war. «Ich unterrichtete immer sehr gerne Realschule. Dies, weil ich da meine Schüler sehr direkt unterstützen kann.» Leitch lobt: «An der Kreisschule Mutschellen hatten wir immer eine tolle Infrastruktur und auch die finanziellen Möglichkeiten, um Lager und andere Anlässe durchzuführen. Das war sensationell.» Er und Anita Schertenleib schätzten aber auch immer das Lehrerteam, welches sich Stufenübergreifend unterstützte.
Beim Gespräch mit den beiden verdienten Lehrkräften merkt man schnell: Sie mögen sich und arbeiten sehr gerne zusammen. Für den Interviewtermin schlug Leitch deshalb wohl auch vor, gemeinsam auf ihre Jahre an der Kreisschule Mutschellen zurückzuschauen. Erlebt haben sie in den 3,5 Jahrzehnten viel.
Unterstützung durch lokale Unternehmer
Anita Schertenleib unterrichtete zuerst je zwei Jahre in Bellikon und Spreitenbach, bevor sie an die Kreisschule Mutschellen kam. Thomas Leitch war dagegen zuerst fünf Jahre als Lehrer im St. Benedikt in Hermetschwil tätig. Beide übernahmen neben dem eigentlichen Unterricht immer wieder spezielle Projekte. So organisierte Schertenleib zusammen mit der Sportlehrerin Beatrice Imhof 15 Jahre lang die Teilnahme der KSM-Mädchen am Schweizer Frauenlauf in Bern. Mit regelmässigen Trainings machten sie die Schülerinnen für den Lauf fit. Starb dieses Projekt irgendwann mal, überlebt das «Lift»-Projekt ihre Pensionierung. «Es gibt Schüler, von denen wir Lehrer annehmen müssen, dass sie aufgrund ihrer schulischen Leistung wohl keine Lehrstelle erhalten werden», erklärt die Lehrerin. «Mit ‹Lift› können diese Schüler während zwei bis drei Monaten zwei bis drei Stunden pro Woche in einem Betrieb arbeiten und erhalten anschliessend ein Arbeitszeugnis, das ihnen bei der Lehrstellensuche hilft. Es gab auch Schüler, die danach von ihrem Betrieb ein Angebot erhielten. Es ist toll, dass die Mutscheller Unternehmen da mitmachen», schwärmt Anita Schertenleib. Ebenfalls ihre Idee war die Vorbereitung von Schülern für die Teilnahme an Englischprüfungen der untersten zwei Cambridge-Stufen. «Das motiviert die Schüler zum Lernen. Und es zeigt Sekundarschülern, dass sie niveaumässig auch mal Bezirksschüler schlagen können.»
Selbsterfahrung statt büffeln
Thomas Leitch leitete dagegen ab 1992 neben dem Unterrichten die Suchtberatung der Kreisschule Mutschellen. Dies, bis die Schulsozialarbeit eingeführt wurde. Zudem machte er bei «Schulen nach Bern» mit seinen Klassen mit. Vier Klassen aus der ganzen Schweiz bereiten dabei vier Initiativen vor, welche sie während ein paar Tagen wie der Nationalrat in denselben Räumen besprechen. «Die Schüler hielten das Thema oft zu Beginn für sehr trocken, knieten sich aber dann voll rein. Zum Beispiel musste jeder Schüler eine Rede vor allen Klassen im Nationalratssaal halten. An ihren Texten feilten sie oft bis spät in die Nacht», lacht Leitch, der selbst 25 Jahre im Grossrat sass. «Sie erfuhren bei diesem Projekt viel über die Schweizer Demokratie und lernten für Staatskunde entsprechend wenig, weil sie alles bereits kannten.»
Eine Spezialität von Thomas Leitch waren Eltern-Schüler-Zmorge, die er drei- bis viermal pro Jahr organisierte. Dafür wurden auch die Geschwister der Schüler eingeladen. «Es kamen oft 60 bis 90 Personen. Die Eltern tauschten sich gegenseitig aus, lernten sich kennen, trafen sich und telefonierten auch danach miteinander. Das hat den Zusammenhalt stark gefördert.» Und dann wäre da noch die Schulinformatik. Diese interessierte Thomas Leitch von Anfang an. Er konnte vieles an der Kreisschule Mutschellen umsetzen. So sehr, dass sie gar mal als «E-Schule» mit dem 1. Preis ausgezeichnet wurde. «Das Preisgeld von 4000 Franken spendeten wir einer Bündner Gemeinde für deren Aufbau der Informatik.»
Gab Leitch die Verantwortung für die Informatik später mal ab, übernahm er sie vor zwei Jahren wieder. «Ich fand diese technische Entwicklung, und was sie für den Unterricht bedeutet, immer faszinierend», strahlt er. Auch Anita Schertenleib erachtet sie als spannend und nützlich. «Wobei sie für mich auch eine grosse Herausforderung darstellte. Ich kam dabei oft an meine Grenzen, bat um Hilfe und bekam sie. Die IT-Abteilung wurde von mir ziemlich gefordert», schmunzelt sie.
Grosse Veränderung durchgemacht
Den Einzug der Informatik in den Unterricht erachten beide Lehrpersonen denn auch als grösste Änderung in ihren 3,5 Jahrzehnten als Lehrer. «Die Digitalisierung ging einher mit der Forderung, dass die Schüler immer selbstständiger und individueller den Lehrstoff erarbeiten müssen», so Schertenleib. Leitch geht ins Detail: «Früher orientierte man sich mittels eines Lexikons, das es in der Schule gab. Heute findet man im Internet zu einem Thema viele verschiedene Informationen, die sich teilweise widersprechen. Wir leiten die Schüler an, aus dieser Flut von Informationen die vertrauenswürdigen herauszufiltern.» Schertenleib bemängelt: «Oft sind diese Informationen für die Schüler zu kompliziert geschrieben. Es gibt zwar Programme, welche solche Texte vereinfachen. Aber auch deren Anwendung muss man erst mal beherrschen.»
Beide stellen fest, dass das selbstständige Lernen nicht für alle Schüler gleich gut geeignet ist. «Gerade Realschüler brauchen wohl mehr Führung und Strukturen. Diese muss man ihnen auch bieten», so Schertenleib. «Das finden sie zwar doof, sie fühlen sich aber dadurch wohler, weil sie merken, dass sie zum Ziel kommen.» Thomas Leitch ist überzeugt: «Die heute verlangte Selbstständigkeit braucht einen klaren Rahmen und Vorgaben, in denen sich die Schüler bewegen können. Das führt für sie auch zu Erfolgserlebnissen.» Etwa dann, wenn klar ist, was eine Arbeit erfüllen muss, damit sie gut benotet wird.
Schertenleib stellte fest, dass die Motivation vieler Realschüler sinkt, sobald sie im Herbst ihres letzten Schuljahres für eine Lehrstelle unterschrieben haben. Diese Motivation aufrechtzuerhalten, sei dann eine Herausforderung. «Das Problem ist bei Sekundarschülern weniger ausgeprägt. Allerdings braucht es im letzten Quartal ein gemeinsames Projekt als Herausforderung, damit sie motiviert bleiben», so Thomas Leitch. So eines sei zum Beispiel «Schulen nach Bern» gewesen. Wollte er früher seinen Schützlingen vor allem Fach- und Sozialkompetenzen mit auf ihren Lebensweg gehen, komme heute die bereits angesprochene IT-Kompetenz dazu. Für Anita Schertenleib stand neben der Vermittlung von Fachwissen noch ein anderes Thema im Vordergrund. «Die Schüler sollen weiterhin verinnerlichen, dass Lernen Freude machen kann. Ich wollte ihre Neugierde aufrechterhalten und wo nötig wieder wecken.»
Bessere Auftrittskompetenz
Gespannt sind jetzt beide auf ihre Zeit nach dem Unterrichten. Diese hat am Freitagabend begonnen. Anita Schertenleib freut sich darauf, künftig keinen Unterricht mehr vorbereiten zu müssen. Für Thomas Leitch steht etwas anderes im Vordergrund: «Ich kann meine Zeit frei einteilen und muss keine Korrekturen mehr machen. Und ich freue mich auf Reisen.» Wird Anita Schertenleib mit 64 regulär pensioniert, zieht sich Thomas Leitch mit 62 Jahren drei Jahre vorher zurück. «Ich unterrichtete immer gerne. Für mich passt jetzt aber der Zeitpunkt. Ich möchte aufhören, solange ich noch gesund bin.»
Bleibt die Frage, was die Schüler heute von denjenigen vor 3,5 Jahrzehnten am meisten unterscheidet. Beide überlegen – und erklären: «Sie wirken auf mich heute schneller erwachsen», sinniert Anita Schertenleib. «Allerdings hat ihre Kompetenz in Rechtschreibung abgenommen.» Thomas Leitch nimmt diesen Faden auf. «Dafür überzeugen sie heute deutlich mehr, wenn sie auftreten. Und sie wissen durch Reisen und wohl durch das Internet besser, wie es ausserhalb der Schweiz aussieht.»