Schwarzwäldertorte über allem
20.12.2022 MuriNach 15 Jahren als Direktor der Pflegi Muri wird Thomas Wernli Ende Jahr pensioniert
Ab der dritten Klasse wuchs er in der Pflegi auf. Vor 15 Jahren kam Thomas Wernli als Direktor zurück. Nun verlässt er die Institution, die für ihn eben doch mehr war als nur ...
Nach 15 Jahren als Direktor der Pflegi Muri wird Thomas Wernli Ende Jahr pensioniert
Ab der dritten Klasse wuchs er in der Pflegi auf. Vor 15 Jahren kam Thomas Wernli als Direktor zurück. Nun verlässt er die Institution, die für ihn eben doch mehr war als nur der Arbeitsort.
Annemarie Keusch
Ins Pflegeheim geht niemand gerne. «Auch der Wernli nicht.» Es sind die Worte jenes Mannes, der als Direktor die Pflegi in den letzten 15 Jahren so zu gestalten versuchte, dass es jenen, die doch ins Pflegeheim müssen, dort wohl ist. Selbstbestimmung ist eines der Stichworte, die er immer ganz nach oben stellte. «Das ist ein Prozess, der andauert, gerade auch in den Köpfen der Bewohnerinnen und Bewohner», erzählt er. Die Selbstverständlichkeit, Wünsche zu äussern, pflegen seiner Meinung nach noch zu wenige. «Ich möchte, dass die Bewohnenden ungehorsam sind, tagtäglich sagen, was sie wollen.»
Grenzen auch mal ausloten
Gerade diesbezüglich hat sich in den letzten Jahren viel gewandelt. «Zum Guten», ist Wernli überzeugt. Die Strategie der Selbstbestimmung, der Individualität, der Direktor verfolgte sie 15 Jahre lang hartnäckig und konsequent. «Immer, wenn es um die Schwarzwäldertorte ging, setzte ich mich vehement ein», formuliert er es. Und meint damit das Plakat, das in der Pflegi an mehreren Orten hängt. Ein Zitat eines Bewohners, der Lust auf ein grosses Stück Schwarzwäldertorte hätte und dieses auch bekommt. «Bei uns leben Menschen, die ihr ganzes Leben lang darüber entschieden, was sie tun oder eben nicht tun. Warum sollte dies in einer Pflegeinstitution plötzlich nicht mehr der Fall sein?»
Bewohnende, die Grenzen ausloten, vielleicht mal verschieben und Mitarbeitende, die auf eine gute Art damit umgehen – so würde es sich der Direktor wünschen. «Aber natürlich, Strukturen, Regeln, das braucht es. Wie immer, wenn verschiedene Personen zusammenleben. Das bräuchte auch ich, wenn ich hoffentlich nicht allzu früh als Bewohner in die Pflegi zurückkomme.» Er wüsste schon, welche seine präferierte Wohngruppe wäre. Zuerst aber heisst es nun Abschied nehmen. Auch von der Direktoren-Dynastie Wernli.
«Muss dafür nicht Wernli heissen»
Ende Jahr verlässt Direktor Thomas Wernli die Pflegimuri – ein Blick zurück
Es sind die Begegnungen, die ihm fehlen werden. Mit den Bewohnenden, mit den Mitarbeitenden. Aber Thomas Wernli freut sich auch, die Verantwortung als Direktor abgeben zu können. «Das permanente Multitasking seit 15Jahren wird weniger», sagt er. Die Verbindung zur Pflegi wird bleiben.
Annemarie Keusch
Seine Stiefmutter, sein Vater, sein Grossvater und sein Urgrossvater. Alle waren sie Direktoren der Pflegimuri, früher der Pflegeanstalt. Und nun endet die Ära Wernli. «Das kommt nicht überraschend. Dass meine Töchter beruflich andere Wege einschlugen, weiss ich ja schon lange», sagt Thomas Wernli. Er nimmts gelassen. «Das belastet mich nicht. Man muss nicht Wernli heissen, um die Pflegi führen zu können.»
Und dennoch, die Verbindung der Familie Wernli zur Pflegi ist eine spezielle. Thomas Wernli kennt das Haus seit 65 Jahren, seit seiner Geburt. Anfangs verbrachte er noch die Ferien hier, ab der dritten Klasse wuchs er im Haus auf. Die Pflegi sei ein Stück Heimat, mit vielen Kindheitserinnerungen verbunden, eben mehr als ein reiner Arbeitsort. «Dass die Pflegi damals nicht den besten Ruf hatte, das war mir als Kind egal.» Und er betont, dass damals in der Pf legeanstalt so gearbeitet wurde, wie es zu dieser Zeit eben Usus war. Einige Bewohnende – damals waren es noch mehrheitlich psychisch oder Suchtkranke – kannte er schon als Kind recht gut. «Sie waren Teil meines Umfelds und ich genoss das. Früher wie heute finde ich es unglaublich spannend, welche Leute hier ein und aus gehen, welche Geschichten sie zu erzählen haben.»
Fokus noch stärker auf Bewohnende gerichtet
In den letzten 15 Jahren hat Thomas Wernli viele dieser Geschichten gehört und miterlebt. Ende Jahr nun verlässt er die Institution. «Der Abschied fällt mir leichter als gedacht», sagt er. Er habe sich darauf vorbereiten können. «Ich weiss, dass die Philosophie, die Kultur weitergehen. Das hilft sicher.» Und er wisse auch, dass dort die Hebel angesetzt werden, wo dies nötig sei. «Ich habe vollstes Vertrauen in die Nachfolge, aber auch in die Mitarbeitenden, die unsere Philosophie mitleben und mitentwickelten.»
Diese ist in den 15 Jahren mit Thomas Wernli als Direktor nicht stehengeblieben. «Der Fokus auf die Bewohnerinnen und Bewohner wurde noch verstärkt», fasst er zusammen. «Wir haben nach Möglichkeiten gesucht, Abläufe so zu verändern, dass mehr Zeit für sie bleibt.» Strukturen und Traditionen hinterfragen, das brauchte es dazu. «Überhaupt, dauerndes Hinterfragen bringt einen vorwärts», ist Wernli überzeugt. Professioneller, schlanker in der Organisation, so beschreibt der scheidende Direktor die Veränderungen weiter.
Sich gegen aussen positioniert
Auch im Marketingbereich habe man Gas gegeben, am Image gearbeitet und als eine der ersten Institutionen sich auch gegen aussen positioniert und präsentiert. «Seit ich neu Direktor wurde, gibt es zudem keine Defizitgarantie seitens des Kantons mehr. Das gab uns zusätzliche unternehmerische Freiheiten.» Zudem wurde in seiner Amtszeit die Gesamtsanierung abgeschlossen, samt Neubau des «Löwen»-Gebäudes. «Was die Infrastruktur betrifft, sind wir à jour.»
Herausforderungen sind die gleichen
Das Angebot der Pflegi ist über die Jahre breit geworden. Wernli war es ein Anliegen, dieses zu professionalisieren und auszubauen. «Wichtig war mir, dass alle Angebote ineinandergreifen. Wir wollen kein Gemischtwarenladen sein.» Differenzieren, koordinieren, das ist auch Wernlis Weg, um die anstehenden Herausforderungen zu meistern. «Diese wurden nicht mehr in den letzten Jahren. Klar, der Druck ist da, aber das war er schon immer. Wenn ich die Jahresberichte meines Urgrossvaters lese, dann sind die Probleme nicht andere geworden.» Was sich verändert habe, sei die Geschwindigkeit. Er ist überzeugt, dass es nichts bringt, gegen den Druck anzukämpfen. «Es ist besser, wenn wir vorausschauen, Neues wagen und eben Dinge hinterfragen.» Mehr als einmal war die Pflegi in seiner Ära Teil eines Pilotprojekts.
Er sei grundsätzlich ein Optimist, sagt Thomas Wernli. «Vielleicht muss man das sein, um eine solche Institution zu führen.» Es brauche Gelassenheit und die Fähigkeit, sich abzugrenzen. «Und allgemein bin ich der Meinung, dass einem mit einer positiven Lebenseinstellung vieles einfacher fällt.» Wernli spricht von einem Urvertrauen, das er spüre. «Ich habe nicht immer alles durchgerechnet, bevor wir Neues gewagt haben, und war trotzdem überzeugt, dass es gut kommt.»
Endlichkeit des Lebens gehört dazu
Es sei die Abwechslung, die die Tätigkeit als Direktor der Pflegi derart spannend mache. «Kein Tag ist wie der andere.» Der Umgang mit den Mitarbeitenden, mit den Bewohnenden, die Aufgaben im pflegerischen Bereich, im gastronomischen und im gesundheitspolitischen. «Die Vielfalt ist riesig.» Wernli spricht von einem permanenten Multitasking, «seit 15 Jahren». Und auch zum Alltag gehört es, mit der Endlichkeit des Lebens umzugehen. «Damit hatte ich selten Probleme. Ich bin aufgewachsen damit. Hier im Haus starben immer Menschen. Was nicht heisst, dass mir Abschiede gleichgültig sind.»
Seine Vorfahren waren Direktoren in der Pflegi. «Trotzdem, mein Weg war nicht vorgespurt, zumindest aus meiner Sicht nicht.» Er sei schon immer wieder darauf angesprochen worden, aber dazu gedrängt habe er sich nie gefühlt. Seine Mutter sei aus einer Hoteldynastie, sein Vater aus einer Pflegedynastie. In beiden Bereichen absolvierte er Ausbildungen. «Irgendeinmal musste ich mich entscheiden. Dabei zog es mich mehr Richtung Pflege», erzählt er. Aber das kundenorientierte Denken der Hotellerie, das sei immer in seinem Hinterkopf geblieben. «Trotzdem, ich bin froh, habe ich mich für diesen Weg entschieden.»
Nägel mit Köpfen machen
Wernli führte zuerst kleinere Heime, bevor er sich für die Stelle als Direktor der Pflegi bewarb. «Unabhängig von meiner Geschichte mit diesem Ort war es der logische Weg, um beruf lich weiterzukommen», sagt er. Und trotzdem habe er gezögert, auch weil es ihm bei seinem vorherigen Arbeitgeber sehr gut gefiel. Wernli betont, dass er den Bewerbungsprozess um die Stelle als Direktor als sehr fair wahrgenommen habe. «Klar, mein Nachname hat vielleicht geholfen, war aber nicht der einzige Grund, warum die Wahl auf mich fiel, hoffentlich.»
Nägel mit Köpfen zu machen, anstatt über Themen nur zu reden – das war Wernli als Direktor der Pflegi wichtig. Diesen Weg, bei dem die Selbstbestimmung der Bewohnenden immer an erster Stelle stand, verfolgte er 15 Jahre lang konsequent. Wie er sich als Direktor selber beschreiben würde? «Ich war immer präsent, auch in den Wohngruppen, habe Entscheide gefällt, auch wenn diese nicht immer einfach waren. Ich war hartnäckig, konsequent, aber nicht streng.» Die Anliegen der Pflegi hat er auch nach aussen vertreten, etwa im Verband der Aargauischen Spitäler, Kliniken, Pflege-, Spitex-Organisationen.
Und das trägt Früchte. Zum Beispiel, dass die Pflegi wenig Probleme hat, genug qualifiziertes Personal zu finden. «Das bestätigt, dass das, was wir machen, nicht falsch ist. Das macht mich schon ein wenig stolz.» Mit der Pflegebranche bleibt Wernli auch nach seiner Pensionierung verbunden, als leitender Auditor im Langzeitbereich. «Ich freue mich darauf», sagt er. Zuerst aber freut er sich auf ein paar Wochen auf Reisen im hohen Norden. «Was dann? Ich gehe neue Lebenssituationen jeweils ganz unvoreingenommen an. Es kommt schon gut.» So, wie es die letzten 15 Jahre in der Pflegi gut kam.