Spaziergang in die Vergangenheit

  04.09.2020 Bremgarten

Kellertheater: Auftaktveranstaltung mit Silvio Blatter

Der Schweizer Schriftsteller stammt aus Bremgarten. Anlässlich eines literarischen Spaziergangs gewährte er intime Einblicke in seine Kindheitserinnerungen. Heute findet der Anlass zum zweiten Mal statt.

André Widmer

Eigentlich war ein literarischer Spaziergang angekündigt. Doch das war es eigentlich nur am Rande. Der erste Gastspielanlass des Kellertheaters war vielmehr ein ganz interessanter und eher intimer Einblick in die Bremgarter Vergangenheit des bekannten Schweizer Schriftstellers Silvio Blatter, der im Reussstädtchen aufwuchs. Und es war damit auch ein atmosphärisches Eintauchen in ein Bremgarten von früher.

«Holzen war geil»

«Ich bin gerne gekommen», sagte der aus München angereiste Silvio Blatter zum Auftakt auf dem Schellenhausplatz und erklärte, dass er sich für diesen literarischen Spaziergang durch Bremgarten nicht nur an die Zeit des Städtchen von damals, sondern auch an sich als Person von früher herantasten müsse. Schliesslich sei weniger Zeit vergangen von der Einschulung bis zum Schreiben der Bücher seiner Freiämter Trilogie als von deren Erscheinen bis jetzt. «Wir Menschen sind nicht so gut in Sachen Verstehen, aber im Nachhinein-Erklären», so Blatter. Als 1978 sein Buch «Zunehmendes Heimweh» erschien, habe er noch behauptet, es sei keine Autobiografie – heute aber sei es eine. In seinem Roman schreibe er über «seine Wahrheit», was subjektiv sei. «Für den Romanschriftsteller ist die Erinnerungslücke eine Chance», verriet Blatter.

«Holsch mer e Zigarette»

Blatters Erinnerungen setzen in den 50er-Jahren ein und gehen zurück an ein Taufessen und einen Wohnzimmerbrand, als ein Inhaliergerät zu Boden fiel. Der Schellenhausplatz sei der «Kegelplatz» gewesen, ohne Pflastersteine, aber mit Gras. Und das Schellenhaus war eine Bruchbude, wo man sich auch mal eines Werkzeugs bediente. Immer wieder erzählte Silvio Blatter vom schlechten Zustand der Gebäude in der Altstadt von damals. «Hier lebten arme Leute», wies er auf die Häuserzeile beim Schellenhausplatz hin. Damals kamen die ersten Fremdarbeiter. Sonntags habe man die Italiener immer «in Schale» gesehen. Den «Budi» erhielten die Ortsbürger offenbar als offenen Wein. Und es gab Holz von der Stadt. «Holzen war geil», sagte Silvio Blatter. Auf dem Risiplatz erinnerte sich Silvio Blatter, wie man damals mit den im Zollhaus inhaftierten Gefangenen Kontakt hatte. «Holsch mer e Zigarette», hiess es aus den Gitterstäben. Durch die Bremgarter Altstadt führte der Verkehr zwischen Bern und Zürich. Und manchmal habe man ein Fünfrappenstück auf das Bahngleis gelegt. Urs Blatter sinnierte: «Es ist eine Stimmung aus der Kindheit, von der ich immer noch profitiere.» Auch später am Abend bemerkte er, dass diese Erinnerungen aus Bremgarten das Grundmaterial zum Schreiben gewesen seien, da habe man sich eine Menge Recherche ersparen können. Weiter bemerkte er: «Wir hatten Lehrer aus dem 19. Jahrhundert. Sie hatten noch ein anderes Verhältnis zum Lineal ...»

Beim Gang hinunter vor die frühere Post bemerkte Blatter zwei einsame Schrauben in einer Mauer. «Die sind von mir.» Als Gründungsmitglied des Boxklubs hatte er hier offenbar einst das Mitteilungskästli installiert.

Das «Villigerhüttli»

Legendär in der Nähe des Schulhauses der Kiosk seines Grossvaters Jakob Villiger. «Ich könnte ein Buch über den Kiosk schreiben», sagte Silvio Blatter. Man nannte den Kiosk das «Villigerhüttli». Hier kam Silvio Blatter in Berührung mit den aktuellen Illustrierten. Verleger Weissenbach kaufte hier jeweils vier Zigaretten, erinnerte sich Blatter. «Mein Grossvater war wie ein Original.» Der gelernte Schneider war Präsident des Ornithologischen Vereines und mit dem Zirkus Merian einst in den USA unterwegs. Beim Obertor kam die Rede auf den heute noch existierenden Eisenwarenhandel Beller und eine weitere Persönlichkeit aus Bremgarten: «Den Edelmann sehe ich heute noch vor mir.» Weiter ging es ein paar Meter zur Rechengasse. Viele Pferde hätten die Bremgarter dannzumal gehabt. «Die hat man gerochen.» Vor dem früheren Elternhaus an der Schlossergasse 15 erinnerte er sich auch an seine Zeit als Ministrant, wo er das Kreuz tragen durfte. «Synesius war ein unerhörter Tag.» Tausende seien nach Bremgarten gekommen und sein Grossvater habe als einziger in der Stadt damals Coca-Cola verkauft.

«Kein schöner Land»

Aus den Büchern las Silvio Blatter an den verschiedenen Punkten in der Stadt nur gelegentlich und relativ wenig vor. Erst der Schlusspunkt im Hof an der Schlossgasse war in etwa eine Lesung mit der fiktiven Person Goldfarb aus «Kein schöner Land», die mit der Entmündigung durch die zwei Söhne hadert. Das Freiamt in seinen Büchern sei seine Erfindung, sagte Silvio Blatter. Das reale Bremgarten aus seinen Erinnerungen ist wohl aber ähnlich interessant wie die Fiktion.


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