Spontanes WM-Abenteuer

  19.01.2021 Sport

Mit Marvin Lier und Dario Ferrante sind zwei frühere Spieler des TV Muri an der Weltmeisterschaft in Ägypten

Direkt vom Flughafen zum ersten WM-Sieg seit Jahrzehnten. Die Schweiz darf spontan an die Handball-Weltmeisterschaft und bezwingt überraschend Österreich. Beim Schweizer Handball-Märchen mischen auch zwei frühere Akteure des TV Muri mit.

Stefan Sprenger

«Das war eine heftige und brutale Erfahrung. Diesen Tag wird niemand von uns so schnell wieder vergessen.» Marvin Lier erzählt die Geschichte der abenteuerlichen Reise am vergangenen Donnerstag. Von Minustemperaturen und Schnee in der Schweiz geht es ins warme Ägypten. «Jetzt sehen wir vom Hotel aus direkt die Pyramide», so Lier, der 2008 für eine Saison beim TV Muri spielte.

Gepäck kam 50 Minuten vor Anpfiff an

Von vorne: Am vergangenen Dienstag sagt zuerst Tschechien aufgrund zu vieler Coronafälle im Team die WM ab. Nordmazedonien rückt nach. Wenig später müssen auch die USA die Handball-WM wegen Corona absagen. Die Schweiz kommt per Handkuss zur ersten WM-Teilnahme seit 1995. «Alles ging sehr rasant», erklärt Lier, der Flügelspieler von Pfadi Winterthur. Am Donnerstag steht das erste Spiel gegen Österreich an und der Flieger der Schweiz startet gleichentags – aufgrund des Schneefalls aber verspätet um 10 Uhr. In Ägypten angekommen bleibt keine Zeit, um ins Hotel zu fahren. Ein Coronatest hier, Fiebermessen da. Und direkt ans Spiel. In der Halle wird klar: Das Gepäck der Schweizer ging verloren. «Immerhin erhielten wir Früchte und ein Sandwich», so Lier lachend. «Nicht gerade die optimale Vorbereitung auf ein Spiel an der Weltmeisterschaft.» 50 Minuten vor Matchbeginn trifft auch das Gepäck ein. Umziehen. Einlaufen. Anpfiff.

Die Schweizer schaffen die Sensation. 28:25-Sieg. Lier erzielt zwei Tore. «Den ganzen Tag waren wir unter Adrenalin. Wir haben es geschafft, dieses Adrenalin aufs Spielfeld zu bringen. Mit den positiven Emotionen konnten wir am Ende einen souveränen Sieg einfahren.»

Ebenfalls mit dabei war mit Dario Ferrante ein anderer Ex-Spieler des TV Muri. «Ein überwältigender Tag. Zuerst Stress, dann Tunnelblick und schliesslich sorgt der Sieg für die Krönung.» Ferrante ist 27 Jahre alt, von Beruf Arzt (in der Altius-Klinik in Rheinfelden) und in Baden zu Hause. Er ist Torwart des HSC Suhr/Aarau in der Nationalliga A. An der WM ist er aber nicht als Goalie dabei, sondern als Teamarzt.

Zeit in Muri hat beide geprägt

Flügelspieler Marvin Lier spielte beim TV Muri in der NLB-Saison 2009/10. Lier ging nach dem Abstieg zurück zum TV Endingen. Ferrante kam nach dem Abstieg in die 1. Liga 2009 und blieb für vier Jahre im Tor des TV Muri. «Die Derbys gegen Wohlen waren unvergesslich», erzählt er. «Und auch das familiäre und tolle Umfeld beim TV Muri habe ich stark in meiner Erinnerung», so Ferrante, der in Wettingen aufwuchs.

Beste Erinnerungen hat er auch an das damalige Trainerduo Zoltan Cordas und Martin Pauli. Ferrante nennt sie «meine zwei Mentoren». Goalie-Legende Pauli ist mittlerweile verstorben. Zu Cordas hat Ferrante auch heute noch Kontakt. Ähnliche Worte wählt der Ehrendinger Marvin Lier. «Das Duo Cordas und Pauli hat meine Karriere stark mitgeprägt», so der 28-Jährige, der momentan seine Masterarbeit in Erziehungswissenschaften schreibt. Für beide war die Zeit in der Bachmattenhalle prägend.

Keine Zeit, um ein Ziel zu formulieren

Für Teamarzt Ferrante und Flügelspieler Lier folgte am Samstag bereits das zweite Spiel an der WM. Dieses Mal mit etwas mehr Vorbereitungszeit. Norwegen war aber eine Nummer zu gross. Es gibt eine 25:31-Niederlage. Lier ist mit sieben Toren (gemeinsam mit Kreisläufer Alen Milosevic) der beste Schweizer Werfer.

Zu den Zielen dieser WM sagt Lier: «Es ging so schnell, dass wir keine Zeit hatten, unsere Ziele zu formulieren. Ich persönlich will in die Hauptrunde einziehen. Das ist mein grosses Ziel.» Und dafür müssen die Schweizer nicht mal etwas tun, wenn sie Glück haben. Denn weil drei der vier Teams pro Gruppe in die Hauptrunde einziehen, müssen die Österreicher die Norweger schlagen. Das Spiel fand gestern Montag nach Redaktionsschluss statt. Eine schwierige Aufgabe. Die Schweiz bestreitet ihr drittes Spiel der Vorrunde ebenfalls gestern Montagabend gegen Frankreich. Die Chancen auf ein Weiterkommen stehen dank «nur» eines Sieges gegen Österreich also gut.

Norwegen-Star nennt es «einen grossen Witz»

In der Hauptrunde wird es dann nur noch grosse Gegner geben für die Schweiz. «Wir sind an dieser WM verdammt dazu, grosse Nationen zu bezwingen», so Lier. Mit konzentrierten Leistungen und Teamspirit will man für weitere Überraschungen an der WM sorgen. Dazu sagt Lier: «Wir müssen die Verantwortung auf viele Schultern verteilen. Andy Schmid ist der Anführer, aber wir dürfen nicht nur ihm alles überlassen. Wir haben die Klasse und wir glauben daran, dass wir auch Topnationen ärgern können.» Ferrante sieht das ebenso: «Der Spirit ist gut. Gemeinsam wollen wir das Bestmögliche herausholen. Dabei sein ist nicht alles, es liegt mehr drin.»

Für Kritik sorgen die Umstände im Gastgeberland Ägypten. Die Spieler und der Staff der einzelnen Nationen befinden sich in einer «Bubble». So sollen Corona-Ansteckungen verhindert werden. Doch bei Kap Verde, Dänemark und Slowenien gab es bereits positive Fälle. Im Hotel habe es zu wenig Platz, beim Essen könne man nicht immer den Abstand einhalten und es gebe Einheimische, die ohne Maske im Hotel ein- und ausgehen. Der norwegische Handball-Superstar Sander Sagosen sagte dazu: «Ich weiss nicht, ob man das überhaupt eine Blase nennen kann.» Alles sei ein «grosser Witz» und er fühle sich wie im «Wilden Westen». Sein Team sei in einem «Schockzustand».

«Es geht nur wenig nach Plan»

Die Schweizer, die im selben Hotel wie die Norweger und die Deutschen logieren, sehen dies nicht so dramatisch. Teamarzt Dario Ferrante, der zum ersten Mal als medizinische Unterstützung bei der Schweizer Nati dabei ist, sagt: «Wir sind nur im Hotel, im Bus oder in der Halle. Corona beherrscht hier alles, die Regeln sind strikt. Die eine oder andere Massnahme im Konzept greift aber nicht zu 100 Prozent.» Marvin Lier sagt: «Das Gastgeberland gibt sich Mühe, aber es geht nur wenig nach Plan. Es ist Flexibilität gefragt.»

Nach der hektischen Anreise, wo es vom Flughafen direkt ans Spiel geht, bringt die Schweizer Handballer so schnell nichts aus der Ruhe. Vielleicht ist dies im weiteren Turnierverlauf ein wichtiger Faktor für den Erfolg. Wie Lier sagt: «Ich bin an einer WM, sehe vom Hotel aus die Pyramiden, es ist warm, ich fühle mich wohl und bin bereit für weitere starke Leistungen.»


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