Verletzlichkeit zulassen
15.09.2023 MuriDie ehemalige Ökonomin und Pfarrerin Regula Blindenbacher spricht über die Zukunft der Kirche
Als Mitarbeiterin der Nationalbank erlebte Regula Blindenbacher die Finanzkrise 2008 hautnah mit. Nun stellt sie sich als Pfarrerin dem Mitgliederschwund in der Kirche. ...
Die ehemalige Ökonomin und Pfarrerin Regula Blindenbacher spricht über die Zukunft der Kirche
Als Mitarbeiterin der Nationalbank erlebte Regula Blindenbacher die Finanzkrise 2008 hautnah mit. Nun stellt sie sich als Pfarrerin dem Mitgliederschwund in der Kirche. Dabei sieht sie damals wie heute in Krisen durchaus auch Chancen für Neuanfänge.
Celeste Blanc
Neue Wege gehen, neue Ansätze finden. Und doch in einer sich stetig ändernden Welt die Ursprünglichkeit des Glaubens beibehalten. Wie das möglich ist, damit beschäftigt sich Pfarrerin Regula Blindenbacher in ihrer Gemeinschaft. «Vielleicht liegt in der Verletzlichkeit der Menschen die Zukunft der Kirche», meint die 41-jährige Pfarrerin, die seit einem Jahr in Holderbank-Möriken-Wildegg tätig ist. Am Gesprächsabend mit Pfarrerin Bettina Lukoschus, der vom reformierten Frauenverein organisiert wurde, wurde dabei auch über die Zukunft der Kirche gesprochen. «Es ist an der Zeit, die Zukunft der Kirche neu zu träumen», so Blindenbacher.
Ursprung des Glaubens wiederentdecken
Für die studierte Ökonomin, die mit Mitte 30 das Theologiestudium aufgenommen hat, kann die Religion ein wichtiges Instrumentarium sein, um die Welt zu verstehen. «Vor allem hilft die Religion dabei, Menschen zu verstehen. Wenn ein Austausch stattfindet darüber, was sie glauben oder was sie sich erhoffen, dann kann es die eigenen Ansichten bereichern.»
Bereichernd sei der christliche Glaube, aber auch die Rituale der katholischen und der reformierten Kirche als Institution, wenn man sie in ihrer Ursprünglichkeit wiederentdeckt. Als Beispiel nennt Blindenbacher die Sakramente, konkret die letzte Salbung, die in sich den Aspekt des Menschseins und der Menschlichkeit beinhalte und widerspiegle. «Einem Menschen vor seinem Tod nochmals körperliche und seelische Nähe zu schenken, das erzeugt eine Wärme und erfüllt gleichzeitig auch ein Grundbedürfnis des Menschen, mit anderen in Kontakt zu sein.» Somit lasse man damit vor allem die Güte aufblühen. Diese Güte, sie ist ein wichtiger Teil, wieso die ehemalige Ökonomin, die für das OECD arbeitete und in der Finanzkommission des Ständerats tätig war, auch beruflich zum Glauben gefunden hat. «Der gütige Blick, der über uns wacht, macht den Alltag, aber auch schwere Zeiten, in denen man sich verloren fühlt, erträglich.» Sie plädiert darauf, dass man sich des Reichtums dieser «gesamten menschlichen Erfahrung», die sich in der Religion sammelt, wieder bewusst wird. Tue man dies, sei es auch möglich, die Aspekte des Glaubens auch in die sich verändernde Gesellschaft zu transportieren und wieder Menschen zu erreichen. «Natürlich wird das schwieriger, wenn die Kirche und der Glaube zunehmend aus der Kirche verschwinden. Es bedeutet, dass man vieles wieder von Neuem erklären muss, weil es nicht mehr präsent ist. Wir müssen neue Ansätze finden, vielleicht neue Erklärungsformen.»
Menschen sind Menschen – egal ob in Paris oder im Aargau
In ihren Ausführungen merkt man, dass die in Benzenschwil aufgewachsene Blindenbacher mit ihrem Werdegang mit einem anderen Blick auf die Zukunft der Kirche blickt. Viele Jahre arbeitete sie als Schweizer Delegierte der Schweizer Nationalbank bei der OECD in Paris, erlebte unter anderem die Finanzkrise 2008 auf dem internationalen Parkett mit. «Es war eine unglaublich spannende Zeit. Zu sehen, wie versucht wird, theoretische Modelle in die Realität umzusetzen und wie das funktionieren kann oder eben nicht, war beeindruckend.» Sie kam mit spannenden und wichtigen Menschen zusammen, darunter Alt-Bundesrätin Doris Leuthard sowie der ehemalige Präsident der Schweizer Nationalbank Philipp Hildebrand. Für die damals Mitte-20-Jährige war die Zeit in Paris wertvolle Lernjahre. «Da durfte ich unglaublich viel erleben. Ich war im Ökonomenparadies angekommen.» Anschliessend wechselte Blindenbacher in den Eidgenössischen Parlamentsdienst.
Der Wechsel von der Wirtschaft in die Theologie war ihrer Neugier geschuldet. «Schon immer hat mich der Glaube begleitet und die Glaubensfragen beschäftigt», erzählt sie. Zusammenhänge verstehen, lernen, wie die Welt funktioniert. Das trieb Blindenbacher an, zusätzlich Theologie zu studieren. Ihren Weg hat sie nie bereut. «Ich habe viel über mich gelernt», erzählt sie. Und sie sieht für sich selbst eine grosse Chance, nach dem internationalen Berufsfeld Pfarrerin von zwei Kirchgemeinden zu werden. «Die Weite der Wirkung ist zurückgegangen, dafür ist die Wirkungsmacht grösser geworden.»
Wirkungsmacht im Kleinen genügt
Nicht nur passiv sein, sondern sich aktiv engagieren, innovativ Probleme angehen und sie realisieren, das macht ihr nun besonders Freude. Und vor allem der Austausch mit den Menschen sei bereichernd. «Denn egal ob in Paris oder in Wildegg – überall hat man es mit Menschen zu tun.» Nur die Art und Weise, wie dieser Kontakt ist, sei unterschiedlich. Mit neuen Ideen möchte Blindenbacher die Kirche nun nach aussen tragen. Hin zu den Menschen. Und ihnen vor Augen führen, dass wir als Menschen im Grundgefühl eigentlich verletzlich sind. Das sei der Gesellschaft heute gar nicht mehr bewusst. «Wir können uns alles kaufen. Wir können jederzeit alles haben. Doch was ist, wenn das alles wegfällt? Dann sind wir verletzlich. Und dann wird auch wieder klar, was wirklich wichtig ist: die Menschen, auf die wir angewiesen sind, auf die wir uns verlassen können.»
Auf die Ursprünglichkeit besinnen und die Zukunft realistisch sehen, das sind Blindenbachers Anliegen. Deshalb denkt sie auch an einen Haltungswandel bei der Diskussion, wie die Zukunft der Kirche aussehen könnte. «Ich denke lieber über eine Kirche nach und wie sie funktionieren kann, wenn die Gemeinschaft klein ist.»
Statt sich immer Gedanken über das Budget zu machen – braucht es noch die Ausrichtung für eine grosse Gemeinschaft? «Ich bedaure nicht, dass der Trend in den Kirchen rückläufig ist. Es liegt nicht in meiner Macht als Einzelperson, das zu ändern. Was ich aber ändern kann, das ist die Art und Weise, wie man Kirche im kleinen Kreis an die Leute bringt. Vielleicht liegt darin ein Ansatz von Wandel, den die Kirche in Zukunft brauchen kann.»