Zu Fuss von Mexico bis Kanada
21.11.2023 MuriEin junges Paar liess die Naturfreunde Oberfreiamt an seinem Abenteuer teilhaben
Von April bis September wanderten sie letztes Jahr auf dem Pacific Crest Trail durch den Westen der USA. Im Saal der reformierten Kirche in Muri haben Lilian Suter und Lars Kistler ihre ...
Ein junges Paar liess die Naturfreunde Oberfreiamt an seinem Abenteuer teilhaben
Von April bis September wanderten sie letztes Jahr auf dem Pacific Crest Trail durch den Westen der USA. Im Saal der reformierten Kirche in Muri haben Lilian Suter und Lars Kistler ihre Erlebnisse und Eindrücke nun geteilt.
Thomas Stöckli
«Warum mache ich das eigentlich?» Wenn man eine Fernwanderung in Angriff nimmt, kommt diese Frage irgendwann unweigerlich. «Und dann sollte man darauf besser eine Antwort haben ...» Auf diese Aussage von Lars Kistler reagiert das Publikum in Muri mit Lachen. Doch wer kann wirklich nachvollziehen, was er damit meint? Wer war schon fünf Monate am Stück zu Fuss unterwegs, 360 Grad um sich fast nichts als unberührte Natur?
Kennengelernt haben sich Lilian Suter, die in Beinwil aufgewachsen ist, und Lars Kistler beim Wandern. Dass eine Tour auch mal länger als einen Tag dauern kann, darauf habe erst sie ihn gebracht, verrät er. Im Engadin waren sie erstmals zwei Tage am Stück unterwegs. Weitere Mehrtages-Hike-Erfahrungen sammelten sie unter anderem auf der Via Alpina und auf dem Jura-Höhenweg, den zweiwöchigen «Peaks of the Balkan» hat das junge Paar dann als Hauptprobe genutzt für den ganz grossen Trip.
Reiz der unberührten Natur
Dass es in die USA und dort auf den Pacific Crest Trail (PCT) gehen sollte, stand nicht von Anfang an fest, sondern war das Resultat einer langen Recherche. Die Möglichkeit, so lange am Stück in unberührter Natur unterwegs zu sein, habe schliesslich den Ausschlag für den PCT gegeben. Den Wunsch auch in die Realität umsetzen zu können, das gestaltet sich allerdings gar nicht so einfach. Pro Starttag werden gerade mal 50 Bewilligungen ausgestellt. Anmelden mussten sie sich bereits im November des Vorjahrs. Die Start-Slots wurden dann in einem Lotteriesystem zugewiesen. «Für den Starttermin am 10. April haben wir gerade noch die letzten beiden Plätze erwischt», so Lilian Suter.
Zuerst führte die Reise das junge Paar nach Texas. Dort hatte Lilian Suter acht Jahre zuvor ein Austauschjahr verbracht. Nun wollten sie ihre damalige Gastfamilie besuchen und bei ihr die letzten Vorbereitungen treffen. Dazu gehörte das Verpacken der Verpf legungspakete. Die 24 Kisten, gefüllt mit Müesli und Trockenbohnen, Riegeln und Schokolade, dazu nach Bedarf Weiteres wie Schuhe und Sonnencrème, verteilte dann die Post auf ihrer Route, wo sie sie eins ums andere abholen konnten.
Begegnungen mit «Trail Angels»
Vom Flughafen San Diego aus wollten sie an den Trailstart. Und noch bevor es losging, hatten sie die erste von vielen bereichernden Begegnungen mit sogenannten «Trail Angels», also freiwilligen «Engeln», welche die Fernwanderer in irgendeiner Form unterstützen. Das kann durch ein Bereitstellen von Wasservorräten sein, durch Verpflegung, Unterkunft, «Taxi»-Dienst in die Zivilisation, oder auch mentalen Zuspruch. «Wann habt ihr das letzte Mal etwas zum ersten Mal gemacht?», bekamen sie von diesem ersten «Trail Angel», der sie bei sich aufnahm und dann auch noch die zwei Stunden bis zum Startpunkt chauffierte, als Leitfrage mit auf den Weg. Und – so viel vorweg – es sollten in den kommenden fünf Monaten ganz viele erste Male folgen.
Die Erzählblöcke wechseln sich im Bildervortrag von Lilian Suter und Lars Kistler immer wieder mit kurzen Abfolgen von Impressionen ab, die mit passender Musik untermalt sind. Den Anfang macht die Wüste. «Eine unerwartet vielfältige Landschaft», wie Lilian Suter festhält. Und diese Vielfalt kann sie dokumentieren: Kakteen, die in allen Farben blühen, oder die Chaparral Yucca, eine Pflanze die fünf oder mehr Jahre wächst, um ein einziges Mal zu blühen und dann einzugehen.
Proviant für sechs Tage
Gereizt hat das junge Paar auch die Herausforderung, ihre Habe auf das absolute Minimum zu reduzieren. Im Rucksack nahmen Zelt, Schlafsack und Verpflegung den grössten Raum ein. Mit sechs Litern Wasser und Proviant für sechs Tage wurde die jeweils nächste Etappe in Angriff genommen. «Unterwegs geht es nur um Laufen, Essen und Schlafen», so Lars Kistler. Was es heisst, der Witterung schutzlos ausgeliefert zu sein, wurde ihnen bei San Jacinto vor Augen geführt. Windgeschwindigkeiten von bis zu 60 km/h massen sie dort – in ihrem Zelt drinnen. Und schliesslich begann es gar noch zu schneien. «Das hätten wir in der Wüste ganz sicher nicht erwartet», sagt Lilian Studer. «Aber wenn man das mal überstanden hat, bringt einen auch nicht mehr so schnell etwas aus der Ruhe», streicht Lars Kistler das Positive heraus.
Gross war die Freude, als nach 700 Meilen durch die Wüste endlich die Gipfel der Sierra Nevada in Sicht kamen. Damit betrat man allerdings auch erstmals Bärengebiet. «Wir mussten einen Kanister mitführen und alles, was riecht, darin verstauen», erklärt Lilian Suter. Am dritten Tag in den Sierras ging es bereits auf den Mount Whitney, den mit 4421 Metern höchsten Berg der USA ausserhalb Alaskas. «Ab 3500 Metern wird es streng, das Atmen fällt schwerer», schildert die junge Frau. Jeden Tag wartete nun eine neue Herausforderung, sei es ein Pass oder eine Flussdurchquerung. Und nicht zuletzt zeigten sich ab der zweiten Woche die frisch geschlüpften Moskitos äusserst penetrant. Dafür wurden die Wandernden mit traumhaften Bergseen, urtümlichen Moorlandschaften und gewaltigen Ausblicken entschädigt. So sei etwas Wehmut aufgekommen, als sie in Nord-Kalifornien die Sierras hinter sich lassen mussten.
Waldbrände als Hindernis
Mit den Superlativen der Sierras konnte die nun folgende Landschaft nicht mithalten. Dichte Büsche und abgebrannte Wälder prägten nun das Bild. «Manchmal gingen wir zwei, drei Tage am Stück nur an verkohlten Baumskeletten vorbei», blickt Lilian Suter zurück. Die feinen Aschepartikel seien in jede Pore gedrungen. Dann wieder folgten längere Passagen über grössere Steine, die sich durch die Barfussschuhe, mit denen sie unterwegs waren, schmerzhaft bemerkbar machten. Nach 90 Tagen erreichte das Paar den «Halfway Point», kurz vor Oregon. Die Erkenntnis, nochmals so viel Strecke vor sich, aber nur noch 60 Tage Zeit zu haben, liess sich nicht verdrängen. Die Staatsgrenze gab den Hikern dann wieder neue Zuversicht. Bis sie dann in Ashland mit dem nächsten Hindernis konfrontiert wurden: «Hinter uns waren Feuer ausgebrochen», berichtet Lars Kistler. «Es hat wirklich Asche geregnet und die Wetter-App hat Rauch angezeigt.» Während andere Fernwanderer nun auf den Küsten-Trail auswichen, blieben sie auf dem PCT. «Und das hat sich mega gelohnt», so Lilian Studer. Bei den Bildern des Crater Lake gerät sie ins Schwärmen. Das tief blaue Wasser des tiefsten Vulkansees der Welt hat es ihr sichtlich angetan. Deutlich weniger allerdings die folgende Passage von mehreren Kilometern über scharfkantiges Lavagestein.
Als Kistler von Washington – dem Bundesstaat im Westen und nicht der Hauptstadt im Osten – zu erzählen beginnt, strahlen seine Augen: «Den Abschnitt würde ich sofort wieder wandern.» Durch uralte, urtümliche Wälder führte hier der Trail. Und immer wieder lagen auch umgestürzte Baumriesen kreuz und quer über den Weg, sodass klettern angesagt war. Das Ende rückte allmählich näher. Wenn auch nicht so, wie es sich die Fernwanderer erhofft hatten. Das letzte Wegstück nach Kanada war wegen Waldbränden gesperrt. «Das war wie ein Schlag ins Gesicht», blickt Lars Kistler zurück. «Wir fühlten uns um unseren Zieleinlauf betrogen.»
Immerhin blieb noch einige Zeit, sich mit dem Unausweichlichen zu arrangieren und doch noch einen versöhnlichen Abschluss zu finden. Dazu trug auch die Bärenbegegnung am zweitletzten Wandertag bei. «Der Bär rannte in einem Karacho den Hang hinunter und vor uns über den Weg», schildert Lilian Suter.
Familie als neues Abenteuer
Der gut anderthalbstündige Vortrag wird mit viel Applaus gewürdigt. Und im Anschluss nutzen noch einige die Gelegenheit, das junge Paar etwas Persönliches zu fragen oder die Ausrüstung zu begutachten, die es mitgebracht hat. Auf besonders grosses Interesse stossen die Barfuss-Schuhe.
Und wie hat das junge Paar für sich die eingangs erwähnte Sinnfrage beantwortet? «Wir wollten in der Natur unterwegs sein, weg von der To-do-Liste, die Natur spüren – und ein letztes gemeinsames Abenteuer erleben, bevor wir uns einer ganz anderen Herausforderung stellen», so Kistler. Das neuste Abenteuer heisst Familie. Die knapp dreimonatige Tochter hat das junge Paar zum Vortrag mitgebracht. Den ersten Teil verschläft sie, den zweiten darf sie zur stolzen Grossmutter: Helen Suter ist im Vorstand der Naturfreunde und hat in dieser Rolle auch den Vortrag ermöglicht.
Als sie schwanger war, haben Lilian Suter und Lars Kistler übrigens den Sentiero Liguria an der italienischen Küste unter die Füsse genommen. Und in einigen Jahren, sobald es die familiäre Situation zulässt, wollen sie von Bulgarien quer durch Europa bis nach Spanien wandern.