Zu Fuss zum Petersplatz

  16.07.2021 Region Oberfreiamt

Von Boswil nach Rom: Hans Hildbrand legte 1280 Kilometer wandernd zurück

In 51 Tagen wanderte Hans Hildbrand von Boswil nach Rom. Er bezeichnet dieses Projekt als «Abenteuer-Pilger-Reise». Besonders wertvoll seien die vielen Begegnungen gewesen. «Und die Tatsache, dass meine Füsse das mitmachten.»

Annemarie Keusch

Nur an drei Tagen gönnte sich Hans Hildbrand eine Pause. Im Städtchen Aulla, weil der starke Regen ihn vom Weiterwandern abhielt. In Lucca und in Siena, weil ihm diese beiden Städte derart gut gefielen. «Da wäre es fast schade gewesen, nicht noch einen Tag zu bleiben», meint er und schmunzelt. Ansonsten brauchte er keinen Tag Pause. In 51 Tagen, davon 48 wandernd, erreichte der Boswiler Rom. Die letzten Meter mit Blick auf den Petersplatz lösten Dankbarkeit und Demut aus, beschreibt Hildbrand seine emotionale Ankunft. Ersehnt hat er sich diesen Moment, auch wenn er den Weg als Ziel bezeichnet. Nicht, weil ihn seine Füsse nicht weitergetragen hätten, gar nicht.

Am Morgen und am Abend immer eincremen

Wer lange wandert, der hat mit Blasen zu kämpfen. Hans Hildbrand nicht. «Ich liess extra eine relativ harte Sohle für meine Wanderschuhe anfertigen.» Und er pflegte seine Füsse, morgens und abends cremte er sie ein. Nicht einmal drückte eine Blase an seinen Füssen. «Darüber bin ich sehr froh. Sonst wäre es wohl schwierig geworden», sagt der Boswiler. Auch mit Muskelkater kämpfte er selten. «Einmal nach Airolo und einmal nach Siena.» Hans Hildbrand spricht von Glück. In erster Linie aber ist es harte Vorbereitung.

Ein ganzes Jahr lang lief diese für seinen Traum, die grosse Reise zu Fuss von Boswil nach Rom. «Joggen und wandern», sagt er angesprochen darauf, wie er sich körperlich vorbereitete. «Auch mit Gewichten.» Schliesslich schleppte Hildbrand einen Rucksack mit, der je nach Füllstand zwischen 14 und 18 Kilogramm wog. Am 7. April lief er zu Hause im Boswiler Oberdorf los. Das Freiamt war mit einer dünnen Schneedecke bedeckt. Am 27. Mai kam er auf dem Petersplatz in Rom an. Die Sonne schien. Hildbrand erzählt von seiner langen, speziellen Reise.


Energie getankt für lange Zeit

Hans Hildbrand wanderte in 51 Tagen von Boswil nach Rom – eine Abenteuer-Pilger-Reise

Es sind rund 1280 Kilometer. Und alle hat Hans Hildbrand zu Fuss zurückgelegt. Gestartet am 7. April zu Hause in Boswil, kam er am 27. Mai auf dem Petersplatz in Rom an. Hildbrand spricht von einer eindrücklichen Erfahrung, vor allem dank den vielen Begegnungen.

Annemarie Keusch

Vielleicht war es Schicksal. Aber ganz sicher Zufall. Hans Hildbrand ist schon über 20 Tage unterwegs. Es war kurz nach dem Cisa-Pass, dem Apenninübergang von der Emilia Romagna in die Toskana, als sich sein Weg mit jenem eines jungen Mannes kreuzt. «Angesprochen zu werden, das war ich mir schon fast gewohnt», sagt Hans Hildbrand. In Zeiten von Corona ist die Zahl der Touristen in Italien stark zurückgegangen, auch jene der Pilger. Immer wieder wird der Boswiler gefragt, wohin er wolle und woher er komme. «Von Boswil, Schweiz, nach Roma.» Hildbrand sagte es auch dem jungen Mann, der ihn danach fragte.

Und wie es sich gehört, fragte er retour. Die Antwort des Mannes, der sich später als Timothée vorstellen wird, lässt Hans Hildbrand schmunzeln: «Von Rom, nach Morges, Schweiz.» Die beiden kommen ins Gespräch. Timothée war Schweizergardist, stellt sich heraus. Seinen Dienst hat er beendet. Er ist auf dem Heimweg. Und er zückt das Telefon. «Keusch, Hildbrand ist auf dem Weg zu dir.» Immer wieder schüttelt Hans Hildbrand ungläubig den Kopf. «Solch ein Zufall, das gibts doch nicht.» Keusch ist die Abkürzung von Lorenz Keusch, der wie Hans Hildbrand in Boswil aufwuchs und seit Jahrzehnten als Gardist in Rom lebt.

7. April, 7.30 Uhr, gings los

Es ist eine jener Begegnungen, die Hans Hildbrand beeindruckte. Eine von vielen, die für ihn das Projekt «Zu Fuss nach Rom» so lohnenswert machten. Eine dieser Begegnungen, die er sich vielleicht auch erhoffte von dieser Reise. Überhaupt auf die Idee gekommen, nach Rom zu wandern, ist Hans Hildbrand dank seiner älteren Tochter Corina. Zwei Jahre ist es her, dass diese mit dem Velo an die Nordsee pedalte. «Das kann ich auch, sogar zu Fuss», war die Reaktion des Vaters. Aber auch Giuseppe spielt eine wichtige Rolle. Viele Jahre lang lebte Giuseppe mit seinen Eltern in Boswil, er wuchs hier auf, besuchte zusammen mit Hans Hildbrand die Schule. «Der Kontakt brach nie ab», sagt Hildbrand. Gut 30 Jahre ist es her, dass Giuseppe wieder in Italien lebt, in Rom. «Irgendwann besuche ich dich, zu Fuss», war schon mehrmals Hans Hildbrands «Drohung». Jetzt machte er sie wahr.

Es war der 7. April, auf den sich Hans Hildbrand ein Jahr lang vorbereitete. Alles musste organisiert sein, im Berufs-, aber auch im Privatleben, innerhalb der Familie, im Verein, in der Kirchenpflege. 7.30 Uhr wars, als Hans Hildbrand vor dem Haus im Boswiler Oberdorf für das Foto posierte. Rucksack geschultert, Mütze auf. Er reibt sich die Hände. Kein Wunder, der Hintergrund des Fotos ist weiss. «Dass zum Start des Abenteuers Schnee liegt, damit hätte ich beim besten Willen nicht gerechnet», sagt er heute.

Unspektakulärer Grenzübergang

Bis zum Gotthard war das Abenteuer für den Boswiler kein Problem. «In der Schweiz kenne ich mich aus, wusste, welche Wege ich nehmen muss», sagt er. Die erste Übernachtung erfolgte im Kloster Frauenthal. Die anfangs kurzen Etappen wurden immer länger. «Die Welt, die Landschaft wandernd zu entdecken, eröffnet einem viel Neues», sagt er. Wer so langsam unterwegs ist, dem fällt vieles auf, der hat Zeit, auf vieles zu achten. Schon nach wenigen Tagen folgte die erste und fast einzige Ausnahme. «Das ging nicht anders. Und diesen Streckenabschnitt hole ich noch diesen Sommer nach», sagt Hildbrand. Die Strecke über den Gotthard war Anfang April noch gesperrt. Ausgerüstet, um bei tiefen Minustemperaturen draussen zu übernachten, war der Boswiler auch nicht. 17 Minuten im Zug dauerte die Fahrt von Göschenen nach Airolo. Dann gings zu Fuss weiter, auch über die Grenze. «Total unspektakulär.»

Ermuntert, diese Reise anzutreten, hat Hans Hildbrand seine Familie, seine Frau Susanna und die drei Kinder. «Ohne sie wäre es nicht gegangen», sagt er, der als Leiter Elektroinstallation bei der EFA Energie Freiamt AG in Muri arbeitet. Auch auf der Wanderung stand er mit ihr fast täglich in Kontakt. «Das ist wichtig. Weil, wenn du stundenlang auf offenem Feld unterwegs bist oder in dichtem Wald – ohne Abwechslung, da denkst du viel an zu Hause.» In solchen Momenten kam auch die religiöse und spirituelle Seite, die Hildbrand als langjähriger Präsident der Kirchenpflege Boswil-Kallern durchaus in sich trägt, zum Vorschein. «Ich begann ab und zu zu beten.»

Am Morgen Kohlenhydrate, am Abend Proteine

51 Tage unterwegs, mit Ausnahme der Städte Aulla, Luca und Siena übernachtete Hans Hildbrand nie zweimal am gleichen Ort. Einen zwischen 14 und 18 Kilogramm schweren Rucksack schleppte er ständig mit sich. Obwohl er auf der Reise fünf bis sieben Kilogramm an Gewicht verlor, war das Essen ein wichtiger Punkt. Schliesslich verbraucht tagtägliches Wandern viel Energie. Die meisten Mahlzeiten bereitete Hans Hildbrand selber zu, im ständig mitgetragenen Gaskocher. «Am Morgen möglichst viele Kohlenhydrate, am Abend möglichst viele Proteine», sagt er. Vor allem Brot und Getreide habe er zu sich genommen. Und Käse. «Sicher zehn Kilogramm Parmesan», sagt er und strahlt. Nur selten gönnte er sich in einem Restaurant einen Teller Pasta. Und nur an seinem Geburtstag ein Gelato.

Hildbrand verliess sich auch deshalb auf seinen Gaskocher, weil er vor allem in der Po-Ebene teilweise tagelang kein Dorf durchquerte, wo er sich hätte verpflegen können. Der Boswiler bezeichnet es als schwierigsten Teilabschnitt. Ab Chiasso bis Pavia, wo Hildbrand auf die Via Francigena kam, den offiziellen Pilgerweg von Frankreich oder England nach Rom, sei es «ätzend» gewesen. Ohne Navigation mit dem Handy wäre er aufgeschmissen gewesen. «Ich war oft stundenlang unsicher, ob ich wirklich in die richtige Richtung laufe.» Landschaftlich habe die Region durchaus viel zu bieten gehabt. «Aber es war der Abschnitt mit den grössten Kontroversen. Schöne Passagen, dann wieder hässliche Wälder, in denen Menschen ihren ganzen Haushalt entsorgten», sagt er. Waldränder waren zudem Umschlagplatz für Prostitution.

Im Freien oder in Herbergen oder Klöstern übernachtet

Ab Pavia konnte Hildbrand die Navigation ausschalten. Kleine Schilder zeigten hier regelmässig den Weg. Ab hier traf er mehr Pilger, aus Paris, aus England, aus Norditalien. Mit ihnen kam er ab und zu ins Gespräch. Gelaufen ist er aber die meiste Zeit alleine. «Bewusst. Ich habe mich entschieden, in diesen Tagen die Energie einfach mal für mich ganz alleine zu brauchen und für niemand anderes.» Einsamkeit sei aber nie ein Problem gewesen. «Gar nicht. Das tat einfach unglaublich gut und hat mich in meinen Grundwerten gestärkt.»

Keine einzige schwierige Situation habe es gegeben, nie habe er Angst gehabt. Auch nicht, als er ganz alleine am Waldrand unter freiem Himmel übernachtete. «Das einzige Problem war dabei die Hygiene», sagt er und lacht. Regelmässiges Händewaschen gehöre für ihn zum Alltag. «Wenn ich draussen übernachtete, ging das eben nicht. Neben dem Trinkwasser schleppte ich nicht noch Wasser zum Waschen mit.» In den Herbergen, in Klöstern oder ganz selten in Hotels war die Situation besser. «Luxuriös auch nicht, gar nicht. Aber das brauche ich nicht. Mir reicht ein Wasserstrahl, um mich zu waschen.»

Durch Sumpf, durch Schnee, über schöne Brücken, durch riesige Ebenen, über Pässe. Hans Hildbrand hat auf seiner 51-tägigen Wanderreise alles gesehen. «Es war wunderschön», sagt er zusammenfassend. Und er spricht von einer Laufsucht. Keinen Tag machte er Pause, immer um 6 Uhr ging es los. «Natürlich, wenn auf dem Wegweiser steht, dass es bis Rom noch 641 Kilometer sind, dann schluckt man schon leer.» Aber Hildbrand erreichte sein Ziel, Rom. Auch wenn er gleichzeitig sagt, der Weg sei das Ziel gewesen. Den Moment, als er seinen Fuss auf den Petersplatz setzte, beschreibt er als demütig und glücklich.

Ausgeglichen zurück im Alltag angekommen

In Rom blieb Hans Hildbrand einige Tage, auch bei seinem Freund Giuseppe. Seine Frau Susanna reiste mit dem Zug an. Mit dem Boswiler Gardisten Lorenz Keusch und dessen Familie trafen sie sich zum Nachtessen. Als einzigartig bezeichnet er auch die Zeit in Rom. «All die Sehenswürdigkeiten, die in normalen Zeiten von Touristen komplett überfüllt sind, hatten wir quasi für uns.» Der Petersplatz sei genauso menschenleer gewesen wie das kleine Plätzchen vor dem Trevi-Brunnen.

Nach 1280 Kilometern, die längste Etappe über 50, die kürzeste über 12 Kilometer, das Ziel erreicht zu haben, nach 51 Tagen auf den Füssen einfach nicht mehr weiterzuwandern: «Ganz leicht war das nicht», sagt er. Als er hinter dem Petersplatz das nächste Schild des Pilgerwegs sah, habe es ihn schon gejuckt in den Füssen. «Wer weiss», sagt er lachend, angesprochen darauf, ob das nicht seine letzte lange Pilgerwanderung gewesen sei. «Ich denke nicht, dass ich das meiner Familie so schnell wieder zumuten kann», fügt er an. Und auch ins Berufsleben ist er Mitte Juni wieder eingestiegen – voller Energie. «Ich fühle mich ausgeglichen. Von diesem Erlebnis werde ich lange profitieren.»


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