Wo einfach alles anders ist
01.03.2024 Region Unterfreiamt, SarmenstorfIn einer ganz anderen Welt
Ruth und Thomas Furrer auf den Salomonen
Leben retten. Und das unter teils misslichen Bedingungen. Ruth und Thomas Furrer aus Sarmenstorf versuchten dies auf der Salomonen-Insel Malaita.
Hantieren mit ...
In einer ganz anderen Welt
Ruth und Thomas Furrer auf den Salomonen
Leben retten. Und das unter teils misslichen Bedingungen. Ruth und Thomas Furrer aus Sarmenstorf versuchten dies auf der Salomonen-Insel Malaita.
Hantieren mit einer Knochensäge, Amputationen, eine Brandwunde, aus der bereits Maden krochen. «Anfangs musste ich oft leer schlucken», sagt Thomas Furrer. Als langjähriger Hausarzt in Sarmenstorf hat er zwar viel erlebt, aber nichts in diesem Ausmass. Aber er habe auch viele schöne Momente erlebt, sagt er. Etwa, dass ein 15-Jähriger überlebte, dem ein Krokodil einen Arm abbiss. «Er hatte doppelt Glück. Normalerweise ertränken Krokodile ihre Beute, hier biss es zum Glück den Arm ab. Und er kam noch rechtzeitig zu uns, sodass wir die Wunde jeden Tag unter Narkose säubern konnten.»
Immer wieder stiessen sie dabei an ihre Grenzen, manchmal ging es gar darüber hinaus. Thomas Furrer sagt: «Man muss sich darauf beschränken, was möglich ist. Sonst schafft man das nicht.» Seit einigen Tagen sind sie nun zurück im Freiamt und erzählen von ihrem humanitären Einsatz. --ake
Hausarzt Thomas Furrer und seine Frau Ruth lebten ein halbes Jahr auf den Salomonen
Infrastruktur, Ausbildung, Mentalität, Essen, Lebensstandards. «Nichts, rein gar nichts ist wie bei uns», sagt Thomas Furrer. Zusammen mit seiner Frau Ruth erfüllte er sich den Traum eines Einsatzes in einem Entwicklungsland. Auf der Salomonen-Insel Malaita stiessen sie aber auch an Grenzen.
Annemarie Keusch
Schon alleine beim Zuhören überkommt einen ein spezielles Gefühl. Wut, Trauer, Unverständnis. Alles in einem. Wie man das verarbeitet? Thomas Furrer antwortet schnell: «Indem man abends zusammensitzt und einander das Herz ausschüttet.» Die Tränen seien öfters gekullert. Das Gefühl der Ohnmacht brachte sie immer wieder zum Schweigen. Oder es schürte in ihnen Wut. «Man muss sich darauf beschränken, was möglich ist. Sonst schafft man das nicht.» Thomas Furrer könnte es auch so formulieren: «Ich musste lernen, mich darauf zu beschränken, was möglich ist. Sonst hätte ich es nicht geschafft.» Vielleicht formuliert er es bewusst passiver, um Distanz zu gewinnen. Distanz zu Bildern, die sich schon beim Zuhören im Gehirn festbrennen.
Ruth Furrer erzählt eine solche Geschichte. Die medizinische Praxisangestellte half auf der Geburtenabteilung des Kilu’ufi-Spitals auf der Salomonen-Insel Malaita. Wie in hiesigen Spitälern kommen auch dort Saugglocken zum Einsatz, wenn die Geburt stockt. «Nur sind das bei uns Einwegprodukte, auf den Salomonen werden sie immer wieder gewaschen und wiederverwendet.» Daran habe sie sich schnell gewöhnt. Nur war eines Tages diese Saugglocke weg, aus Versehen in den Abfall geworfen worden. Eine zweite gabs nicht mehr. Die Folge bei der nächsten Geburt, bei der eine Saugglocke nötig gewesen wäre: Das Ungeborene starb. «Für uns ist das unglaublich tragisch. Für sie ist es einfach so», sagt Ruth Furrer.
Shell-Money-Ketten als Andenken
Solche Beispiele erzählen sie verschiedene. Etwa jenes eines Mannes, der starb, weil keine Bluttransfusionen möglich waren. «Hier gibt es keine Blutbanken. Wer Blut braucht, bringt Verwandte mit. Vor Ort testen wir, wessen Blut passt, und dann kommts zur Transfusion», erklärt Thomas Furrer. Nur, an diesem Tag gingen die Blutbeutel aus. «Niemand denkt daran, neue zu organisieren, wenn er den letzten Beutel aus der Schublade nimmt. Dann hat es einfach keine mehr und irgendjemanden trifft es.» Wie sie solche Geschehnisse aushielten? «Fast nicht.»
Wenige Wochen sind vergangen, seit Thomas und Ruth Furrer wieder zu Hause in Sarmenstorf sind. Zuvor war die Insel Malaita sechs Monate lang ihr Wohn- und Arbeitsort. Eine Insel der Salomonen, einer ehemaligen britischen Kolonie. Weil diese nicht reich an Bodenschätzen ist und weil sich die Menschen gegen die Versklavung wehrten, war die Inselgruppe schnell uninteressant und wurde sich selbst überlassen. Thomas Furrer sagt: «Vor fünf Jahren hätte ich ehrlich gesagt nicht gewusst, dass es diesen Inselstaat überhaupt gibt.» Mittlerweile sind sie fast Einheimische, werden zumindest so behandelt. Die Boxen voller Shell-Money-Ketten zeugen davon. Muschelketten, die es nur auf dieser Insel gibt.
Stricknadeln aus Australien bestellt
Eine andere Art der Medizin kennenlernen. Das wollte Thomas Furrer schon immer. «Ich habe diesen Traum nie ganz aufgegeben und jetzt, da die Pensionierung anstand, die Nachfolge in der Hausarztpraxis in Sarmenstorf geregelt war, ging es an die Realisierung.» Ein humanitärer Einsatz, damit hat unabhängig auch Ruth Furrer immer wieder geliebäugelt. «Für mich war schnell klar, dass ich mit ihm gehe, auch wenn ich eigentlich nicht abenteuerlustig bin.» Über das Hilfsprojekt «Ruckstuhl4charity» wurden sie auf die Salomonen aufmerksam.
Nichts sei gleich wie in ihrem Leben in der Schweiz. «Wie ein anderer Planet», sagt Thomas Furrer. Zwar bestellte sich Ruth Furrer während des sechsmonatigen Aufenthalts Stricknadeln und Garn aus Australien. «Unter dem Ventilator ging es temperaturmässig einigermassen», sagt sie. Kein Restaurant auf der gesamten Insel, keine Pasta in den Läden. «Zum Glück hatten wir die Gepäckstücke in Australien noch damit gefüllt», erzählt sie. Kein Waschpulver, aber auch das hatten sie dabei. Ebenso Solarpanels, Wasserfilter und Luftmatratzen. «Wir haben uns akribisch vorbereitet, waren auf alles gefasst. Irgendwie aber auch nicht», sagt Thomas Furrer. Obwohl sie darauf gefasst waren, in einer Wohnung ohne Küche und nur mit einem Reiskocher und einer Mikrowelle ausgestattet zu leben, sei es schwierig gewesen. «Gefasst darauf zu sein, das Elend und die Not zu sehen, ist unmöglich.» Die Wohnung konnten sie wechseln, an die Not mussten sie sich gewöhnen.
Tuberkulose ein grosses Thema
Gewöhnung, das musste auch zwischenmenschlich passieren. «Anfangs wurden wir angeschaut wie Tiere im Zoo», erinnert sich Ruth Furrer. Die Skepsis gegenüber den Weissen sei gross gewesen, der Neid ebenso. «Sie dachten zuerst, dass wir sie in allen Bereichen korrigieren, unsere Überlegenheit ausspielen wollen.» Es galt also behutsam vorzugehen, Fingerspitzengefühl zu beweisen. «Von dem Moment an, als wir im Dorf immer wieder auftauchten, wagten, die ersten Fragen zu stellen, wuchs das Vertrauen stetig.» So stark, dass der Abschied nach sechs Monaten ein tränenreicher war. «Wir haben unsere Freunde wieder verlassen. Im Wissen, sie wohl nie mehr zu sehen», sagt Thomas Furrer. Auch wenn sie in den ersten Wochen oft zweifelten, sich fragten, was sie hier überhaupt tun. «Es hat sich alles gelohnt.»
Thomas Furrer, «Doctor Thomas», im Kilu’ufi Hospital, Ruth Furrer auf der Gebärabteilung. Ein tropenmedizinischer Kurs sollte sie vorbereiten. «Schliesslich gibt es dort viele Krankheiten, die bei uns ausgerottet sind. Malaria zum Beispiel. Oder mit Tuberkulose kam ich als Arzt nur zweimal in Berührung bis vor der Reise auf die Salomonen.» Dort gehörte Tuberkulose zum Alltag. «Weil viele erst viel zu spät ein Spital aufsuchen, verstarben nicht wenige an dieser Krankheit.»
Fünf kleine Mädchen tragen ihren Namen
Natürlich kann auch Ruth Furrer von vielen schönen Momenten erzählen. Von zig Geburten, bei denen sie vor allem die werdenden Mütter betreute. «Ich habe ihnen den Rücken massiert, stand ihnen bei. Für viele war das etwas völlig Neues.» Nähe, Betreuung, Mitgefühl, Freude – um Emotionen gehe es bei Geburten auf den Salomonen kaum. «Umso mehr freuten sich die Frauen, dass auch jemand für sie da ist», sagt sie. Die Folge ist berührend, vielleicht auch ein wenig lustig: Fünf Kinder, bei deren Geburt sie dabei war, tragen nun den Namen Ruth.
Keine beliebigen Antibiotika-Cocktails mehr
Nachhaltige Entwicklungshilfe. An schwülen Sonntagen, wenn nichts ging ausser schwitzend unter dem Ventilator liegen, dachten sie darüber nach. «Wir wollten mehr bringen als jenen Glück, die im Zeitraum unserer Anwesenheit medizinische Hilfe nötig hatten oder ein Kind gebaren», sagt Ruth Furrer. Thomas Furrer begann zu unterrichten, sein Wissen weiterzugeben. «Dafür waren die Leute vor Ort mehr als empfänglich. Sie haben alles aufgesogen wie ein Schwamm, Praktiken wurden geändert.» Etwa hörte man damit auf, allen ankommenden Patienten einen Antibiotika-Cocktail zu verabreichen. «Jetzt versuchen sie möglichst genaue Diagnosen zu stellen und dann zu reagieren.» Antibiotikaresistenzen wären nur eine der negativen Folgen der bisherigen Praktik.
Aber die Furrers haben auf Malaita nicht nur gearbeitet, sondern sie erhielten auch tiefe Einblicke in das Leben vor Ort. Etwa in jenes der Kirche. «Wir sind Katholiken, also schauten wir eines Sonntags in der katholischen Kirche vorbei und platzten in einen Firmgottesdienst.» Von da an gingen sie jeden Sonntag dorthin. «Ein Gottesdienst dauert über zwei Stunden. Mit dem vielen Gesang, Tanz und der Musik ist es aber keine Minute langweilig», sagt Ruth Furrer. Und es sei ganz einfach auch das einzige Unterhaltungsprogramm auf der Insel. Mit ein Grund, weshalb sich die Furrers auch an die «Solomontime» gewöhnen mussten. «Plus oder minus eineinhalb Stunden. Das ist hier normal. Die Leute haben so viel Zeit. Hier ist nichts los. Pünktlich zu sein, ist völlig egal», sagt Thomas Furrer.
Überfordert wegen der grossen Auswahl in der Bäckerei
Auch zehn Tage Ferien gönnten sie sich während des sechsmonatigen Aufenthalts. «Wunderschön», schwärmt Ruth Furrer von der unberührten Natur, den «fantastischen Tauchgründen». Vor allem aber rackerten sie sich im Kilu’ufi Hospital ab, versuchten Leben zu retten, Prozesse zu verändern, die Welt der Menschen auf der Salomonen-Insel ein kleines Stück weit zu verbessern.
Seit einigen Tagen sind sie nun zurück in Sarmenstorf. «Kulturschock zum Zweiten», sagt Thomas Furrer. Das riesige Angebot in der Bäckerei sei die völlige Überforderung. Vor allem freuten sie sich auf ihre Familien, Kinder, Enkel. «Sie so lange nur via Videotelefonie zu sehen, das war hart.» Und trotzdem sagen sie nicht kategorisch Nein dazu, nochmals ein solches Abenteuer zu wagen, gar erneut auf den Salomonen. «Dort wüssten wir, wie es läuft, die Akzeptanz, das Vertrauen wären da.» Und dort würden sie sich trotz diametral unterschiedlichen Kulturen und Lebensstilen auch wohlfühlen. «Wir konnten viel von den Einheimischen lernen. Etwa zufrieden und glücklich sein, obwohl es nicht immer einfach ist», sagt Ruth Furrer.
Ebenso haben sie sich fast ein wenig daran gewöhnt, viel Zeit zu haben. «Dass in der Schweiz die Agenda schnell wieder voll ist, das haben wir nicht vermisst.»