«Kinder sind die Leidtragenden»
02.06.2023 Region Bremgarten, Region Wohlen, Wohlen, Region Unterfreiamt, Region OberfreiamtSchule Wohlen: Franziska Walti, Präsidentin der Schulleitungskonferenz, zum Mangel an Lehrpersonen
Fachkräftemangel. An der grössten Schule im Freiamt ist das mittlerweile ein stetes Thema. Und eine grosse Herausforderung. Um dies zu korrigieren, stehen die ...
Schule Wohlen: Franziska Walti, Präsidentin der Schulleitungskonferenz, zum Mangel an Lehrpersonen
Fachkräftemangel. An der grössten Schule im Freiamt ist das mittlerweile ein stetes Thema. Und eine grosse Herausforderung. Um dies zu korrigieren, stehen die Schulen laut Franziska Walti «vor einem langen Weg und rasche Lösungen sind unmöglich».
Daniel Marti
Der Fachkräftemangel ist mittlerweile auch ein Problem an der Schule Wohlen. Im Jahresbericht der Gemeinde Wohlen wird der Mangel an Lehrpersonen bereits angesprochen. Und der Mangel an Lehrpersonen ist an der Schule Wohlen «deutlich spürbar» angekommen, wie Franziska Walti bestätigt. Die Präsidentin der Schulleitungskonferenz spricht von einer Herkulesarbeit, um alle Stellen zu besetzen. Ganz schwierig wird es, «wenn mehrere Lehrpersonen ausfallen oder beurlaubt sind. An einigen Schulen wird für Lehrpersonen Urlaub deshalb nur noch in zwingenden Fällen bewilligt», so Walti.
Warum ist es an den Schulen überhaupt zum Fachkräftemangel gekommen? Welche Fehler hat allenfalls die kantonale Politik gemacht?
Franziska Walti: Die Gründe für den aktuellen Lehrpersonenmangel sind mannigfaltig. Letztlich ist der Fachkräftemangel ein gesamtgesellschaftliches Problem, das mittlerweile die verschiedensten Branchen trifft. Kantonal hat man sicher zu spät auf den sich schon lange abzeichnenden Lehrpersonenmangel reagiert. Einerseits besteht ein demografisches Problem, die Babyboomer gehen in Pension, andererseits haben wir ein grosses Wachstum der Anzahl Schülerinnen und Schüler zu verzeichnen, welches wiederum mehr Lehrpersonen bedingt. Die einberufene kantonale Taskforce beleuchtet das Problem nun zwar ganzheitlicher und leitet gewisse Massnahmen ab. Von der Auslegeordnung bis zu konkret greifenden Massnahmen ist es aber ein langer Weg, rasche Lösungen sind unmöglich.
Ist der Lehrerberuf zu wenig attraktiv? Ist es schwierig, Belastungen – sprich vermehrt Schüler mit Migrationshintergrund – auszuhalten?
Der Lehrerberuf und die Volksschule haben zurzeit ein Imageproblem, das medial ausgeschlachtet wird. Die integrative Schule wird als Hauptgrund genannt für die hohe Belastung der Lehrpersonen. Wir müssten uns jedoch viel eher fragen, warum unsere Gesellschaft zunehmend Kinder hervorbringt, die Auffälligkeiten im Verhalten zeigen, psychisch belastet und wenig resilient sind. Bei diesen Fragen spielt der Migrationsanteil eine untergeordnete Rolle. Nichtsdestotrotz ist der Lehrerberuf immer noch beliebt, wird von vielen jungen Menschen als sinnstiftend empfunden, auch die Quereinstiegsprogramme sind beliebt.
Fehlen die Anreize oder gibt es weitere Probleme?
Ein grosses Problem ist, dass viele Lehrpersonen nicht allzu lange im Beruf bleiben oder ihn nur in Teilzeit ausfüllen. Die fachlichen Studienanforderungen sind hoch, dennoch gelingt es in der Ausbildung junger Lehrpersonen zu wenig, diese auf die Anforderungen der Klassenführung, des Konf likt- und Krisenmanagements, die Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams oder die Kommunikation mit Eltern vorzubereiten.
Wie sieht die Bestandesaufnahme aus? Wie viele Lehrpersonen fehlen aktuell an der Schule Wohlen?
Bei den Stellenbesetzungen der letzten Wochen musste die Schule Wohlen vermehrt auf nicht oder nicht genügend qualifiziertes Personal zurückgreifen. Stand 25.Mai sind in allen Zentren und Stufen inklusive HPS noch Stellen offen, meist kleinere Restpensen oder Pensen in der Schulischen Heilpädagogik, DaZ oder Logopädie. Es fehlen aber auch noch zwei Klassenlehrpersonen und Stellvertretungen für Urlaube im ersten Semester (Mutterschaft, Dienstaltersgeschenke).
Wie sieht die Prognose aus für den Start ins neue Schuljahr im August?
Auch wenn im Moment noch nicht alle Stellen besetzt sind, wird es wohl gelingen, zum Start im August alle Pensen irgendwie abzudecken, möglicherweise aber auch mit provisorischen Lösungen.
Wie geht die Schule vor, damit gute und qualifizierte neue Lehrpersonen gewonnen werden können? Welche Strategie ist erfolgreich, die übliche Ausschreibung oder Mund-zu-Mund-Werbung?
Der wichtigste Pfeiler ist, gute Lehrpersonen an der Schule Wohlen zu halten. Ein gutes Schulklima, gemeinsame Ziele der Schulentwicklung und eine gute Schulführung sind hierfür zentrale Faktoren. So profitieren wir immer auch wieder von Mund-zu-Mund-Werbung. Wir nutzen primär das Stellenportal des Kantons, schalten Inserate über die Region hinaus und brauchen zunehmend auch Online-Tools für Lehrpersonenvermittlung wie zum Beispiel Epalero. Zudem arbeiten viele Lehrpersonen bei uns, die als Co-Lehrpersonen während ihrer Ausbildung ihre Praktika an der Schule Wohlen absolvierten und in der Folge neben dem Studium bei uns zu unterrichten beginnen.
Zum Konkurrenzkampf um qualifizierte Lehrpersonen. Hat man als Schule Wohlen überhaupt eine Chance gegen die Konkurrenz aus dem Kanton Zürich, der bessere Löhne zahlt?
Die Schule Wohlen ist konkurrenzfähig. Wir bieten professionelle Strukturen und prof itieren von einer lang jährigen Kultur der Schulentwicklung. Das spricht sich herum. Der Kanton Aargau punktet unterdessen ebenfalls mit konkurrenzfähigen Löhnen und auch mit dem System der neuen Ressourcierung, welches den Schulen vor Ort mehr Gestaltungsraum als in anderen Kantonen bietet. So kann eine Schule ihr Profil auch schärfen. Dennoch: Wir sind vermehrt damit konfrontiert, dass Lehrpersonen von anderen Schulen aktiv abgeworben werden oder – ein neues Phänomen – dass Lehrpersonen im ersten Anstellungsjahr kurzfristig kündigen, wenn ihnen etwas nicht passt, oder eine Stellenzusage vor Vertragsabschluss wieder rückgängig machen, wenn sie ein noch passenderes Angebot erhalten. Stellensuchende sind zurzeit einfach am längeren Hebel.
Letztlich besteht die Gefahr, dass die Qualität des Unterrichts leidet und die Kinder und die Jugendlichen die Leidtragenden sind?
Es ist schon so, dass neben den angestellten Lehrpersonen eines Teams auch die Kinder und Jugendlichen die Leidtragenden des aktuellen Lehrpersonenmangels sind. Häufige Lehrpersonenwechsel und Lehrpersonen, die am Limit ihrer Kräfte sind, weil sie für die anspruchsvolle Aufgabe zu wenig vorbereitet sind, dies alles ist nicht förderlich für eine unterstützende Lernkultur und ein gutes Klassenklima.
Trotzdem: Auch noch nicht qualifizierte Lehrpersonen sind wichtig.
Der Schulbetrieb liesse sich jedoch ohne nicht adäquat ausgebildetes Personal aktuell gar nicht mehr aufrechterhalten. Viele unserer Lehrpersonen haben ihre Ausbildung noch nicht vollständig abgeschlossen. Dadurch, dass man sie in der Not eher früh mit grösseren und verantwortungsvollen Aufgaben ausstattet, besteht umgekehrt die Gefahr, dass sich ihr Studienabschluss verzögert. In Einzelfällen – sehr oft für Stellvertretungen – arbeiten auch Personen bei uns, die über keine pädagogische Ausbildung verfügen. Dies klappt in manchen Fällen recht gut, und zwar fächerunabhängig. Entscheidend ist, dass solche Leute ein überdurchschnittliches Mass an Aufwand zu leisten bereit sind, Organisationstalente sind, über eine gewisse Leadership verfügen und menschlich etwas draufhaben. Aber es ist nicht wegzudiskutieren, dass die Unterstützung und Begleitung dieses Personals aufwendig sind, sowohl für die Lehrpersonen eines Kollegiums wie auch für die Schulleitungen.